In seinem für den Deutschen Buchpreis 2023 nominierten Debütroman Weil da war etwas im Wasser entführt uns Luca Kieser in die Tiefen des Ozeans. Aber keine Sorge, die poetische und fantasievolle Reise führt auch an “menschenfreundlichere Orte” wie zum Beispiel ein Krillfangschiff in der Antarktis. Das Ganze spielt also an Schauplätzen, die den meisten Leser:innen geläufig sein dürften.
von Peter Huemer
10. Jänner 2024: Bevor wir uns auf die kommenden Frühjahrsprogramme stürzen, kehren wir für den ersten Buchtipp 2024 noch einmal ins letzte Jahr zurück. Und zwar zu einem Buch, das schon 2023 einen Platz in unseren Buchtipps 2023 verdient gehabt hätte. Ein Riesenkalmar durschwimmt das Meer, gleitet über Schlick und Schlamm und seine Arme beginnen zu erzählen. Jeder Arm für sich eine eigenen Stimme und zusammen sind sie “wir” und der Körper “unser Kalmar”.
Was kann so ein Meeresbewohner Erzählenswertes erleben? Es stellt sich heraus: so einiges. Zumal der Blick der Arme über die Meeresbewohner und die Wasseroberfläche hinausreicht.
Nachdem der Kalmar und seine Arme am Meeresgrund auf ein Untersee-Internetkabel stoßen und diesem folgen, verschlägt es sie in die Antarktis, wo sie ins Netz eines Krillfangkutters geraten. An Bord trifft der für anrückende Wissenschaftler am Leben gehaltene Kalmar auf die Praktikantin des Schiffes und es entsteht eine Verbindung, die sich auf komplexe Art und Weise viele Generationen in die Vergangenheit bis zu einem gemeinsamen Vorfahren erstreckt.
Erzählt wird das Ganze durch abwechslungsreiche Episoden, die jeweils mit der Stimme eines anderen der Arme erzählt werden. Selbst die Geschichten der Praktikantin und anderer Figuren kommen aus dem “Munde” der Kalmararme. Wo immer die Erzählperspektive Schwierigkeiten bereiten könnte, findet Kieser entzückend kreative Lösungen und obwohl es durchaus hin und wieder kompliziert wird, sich in der Geschichte zu orientieren, stößt man nie an eine Wand.
Es ist die Sprache des Romans, der das Gestrüpp aus Fäden zusammenhält. Leichtfüßig umtanzt die Sprache die Hürden, die eine solch ungewöhnliche Herangehensweise mit sich bringt, bricht Perspektiven auf und schreckt nicht davor zurück, weit gegriffene Metaphorik zu verwenden, die doch immer bei genauere Betrachtung ihr Ziel trifft. In einer Welt mit ringsum Wasser und einem beschränkten Beschreibungsarsenal für Bewegung und visuelle Reize ist die Fülle an Verben und Sprachbildern beeindruckend. Aus ähnlichem wird mithilfe von Nuancen und ohne eine Überfülle aus differenzierenden Details ein kalaidoskopisches Erzählbild geschaffen.
Natürlich liest man einen Roman normalerweise von vorne bis hinten. Hier ist das aber nicht unbedingt notwendig. Die Arme verweisen in Fußnoten immer wieder, während eigentlich ein andere Arm an der Reihe ist, auf ihre eigenen Episoden und bitten darum etwas zu überspringen oder auf etwas zurück zu kommen. So ließe sich das Buch, wenn man den Hinweisen der Arme folgt, auf viele verschiedene Arten lesen. Das funktionert vor allem, weil die Chronologie der Ereignisse sowieso nicht immer allzu streng genommen wird.
Bei derartig fragmentarischem Erzählen bietet es sich an, an schwierigen Stellen die Perspektive zu ändern oder vor bzw. zurück zu springen. In einem schwächeren Roman könnte das zu Verwirrung führen oder sich anfühlen als rette der Autor sich in Konfusion, um über irgendetwas hinweg zu täuschen. In diesem Falle aber ist das so elegant gelöst und die Aufteilung (plus Markierung am Seitenrand) in genau definierte Stimmen so gut nachverfolgbar, dass dieser Verdacht nicht aufkommt.
All die Fragen nach den angedeuteten Verbindungen, der Signifikanz der menschlichen Figuren und deren Verhältnissen zueinander und zum Kalmar werden nach und nach eingeführt und die Antworten darauf kunstvoll am Ende metanarrativ zusammengeführt. Meta ist ja sehr inn, aber hier ist der Kunstgriff fern jeder Selbstzweckhafigkeit ausgeführt. Stattdessen öffnet der Metaaspekt die Tür. Unter einer handvoll recht eindeutiger Bedeutungsebenen, tief im Meer, eröffnet sich einem dadurch eine Vielzahl von dünnen Bedeutungsfäden, denen zu folgen sich lohnt.
Weil da war etwas im Wasser von Luca Kieser ist ein beeindruckend ambitionierter Erstling, der seinen Ambitionen zu jeder Zeit gerecht wird. Fernab von jeder Definierbarkeit betritt das Buch erzählerisch in einigen Bereich interessantes Neuland und obwohl es sich nicht um leicht verdauliche Lektüre handelt, ist der Roman für alle Lesenden zu Empfehlen, die sich nach frischem Wind sehen.
Weil da war etwas im Wasser ist im August 2023 beim Picus Verlag erschienen.
GEORGE LUCAS: DER LANGE WEG ZU STAR WARS
EIN SCHÖNES AUSLÄNDERKIND von Toxische Pommes
STYX von Jürgen Bauer
CONTENT von Elias Hirschl
LOOKING FOR LILLY von Anna Amilar
MIR GEHT´S GUT, WENN NICHT HEUTE, DANN MORGEN von Dirk Stermann
VERPASST von Hannah Oppolzer
MÄNNER TÖTEN von Eva Reisinger
GÜNTHER von Andi Appel
DIE BIBLIOTHEKARIN von Peter Marius Huemer
MAUERN von Paul Auer
WAS ÜBER FRAUEN GEREDET WIRD von Mieze Medusa
DAS GRAB VON IVAN LENDL von Paul Ferstl
DAS JOURNAL DER VALERIE VOGLER von Constantin Schwab
TOD AM NEUSIEDLER SEE von Lukas Pellmann
Wiener Buchhandlungen: Die 12 besten Läden der Stadt
Aufmacherfoto: (c) heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.