In schweren Zeiten lohnt sich ein Blick zurück in die Geschichte, um alles in Kontext zu setzen. Umso besser, wenn sie nicht nur lehrreich, sondern auch unheimlich witzig erzählt ist. Wie bei Weana Gschicht und Weana Gschichtln von Ludwig Roman Fleischer.
Eine Rezension von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
18. Februar 2021: Ludwig Roman Fleischer ist ein echter Vielschreiber. Beinahe im Jahrestakt erscheinen seit 1990 seine Werke. Da könnte man fürchten, dass die Qualität unter dem Pensum leiden könnte. Dem ist aber ganz und gar nicht so. Mit sprachlicher Finesse und stets humorvoll, ohne dabei an Substanz zu verlieren, erzählt Fleischer seine Geschichten. Als Experte für Wiener Mundart, was er in seinen Büchern (und Hörbüchern) immer wieder bewiesen hat, ist Ludwig Roman Fleischer der perfekte Schriftsteller, sich der Historie Wiens zu widmen.
Ein ganzes Buch auf Mundart mag für manche Leser, die des Wienerischen nicht mächtig sind, auf den ersten Blick einschüchternd wirken. Sogar für Meister des Wiener Dialekts ist es nicht leicht, das täglich Gesprochene in geschriebener Form sofort zu erkennen. All diesen Problemen wird aber gleich auf den ersten Seiten Abhilfe geschaffen. Nach einem kurzen „Fuafuawuat“ gibt es eine wunderbare Einführung in die Leseart und Aussprache aller möglichen Selbstlaute und Konsonanten samt Beispielen. Die Detailsgenauigkeit dieser Ausführungen sollte es jedem erlauben, dem, was kommt, zu folgen. Wienerisch-Experten können diesen Teil überspringen und sich direkt in die unterhaltsame Geschichtsstunde stürzen.
Die Geschichte Wiens beginnt lang bevor Österreich überhaupt existiert, nämlich in der späten Steinzeit. Diesen Anfängen ist das erste Kapitel gewidmet: „Schtaazähdla, Köhtn und Rööma“ nennt es sich und gibt gleich den Ton an. Die Wiener Sprache bringt auch den Wiener Humor mit. Dabei handelt es sich aber nicht um Blödelei, sondern vielmehr um subtilen Witz und Ironie, die allem zugrunde liegt. Und diese Stimmung zieht sich durch das ganze Buch. Sie beschert einem ein ständiges kleines Lächeln. Eine angenehme Wärme.
Das Erzähltempo ist in den ersten Kapiteln recht rasant. Die Steinzeit, die Antike und das frühe Mittelalter stecken nicht so voller skurriler Charaktere, wie Neuzeit und Zeitgeschichte. Aber umso leichter fällt es einem in das Buch hinein zu finden. Schon nach wenigen Seiten fühlt man sich klüger als zuvor und wird dabei auch noch rächtig unterhalten.
Die Geschichte Wiens, wie der ganzen Welt, wurde über weite Strecken von den Herrschenden und damit den damaligen Adelsgeschlechtern dominiert. So prägen sie auch dieses Buch. Und gerade ihnen steht die ironische Erzählhaltung gut zu Gesicht. Macht (und sei es vergangene) sollte nicht mit allzu viel Ehrfurcht bedacht werden. So arbeitet sich die Erzählung von den Babenbergern über die Habsburger bis zum Ersten Weltkrieg voran. Einigen bestimmten Herrschern wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt als anderen. Populäre Figuren wie Maria Theresia nehmen viel Platz ein, weil es über sie oft auch mehr Spannendes zu wissen gibt. Aber auch zu anderen, weniger bekannten, hat das Buch interessante Details zu bieten.
Das Ende der Geschichte beim Ersten Weltkrieg lässt die Möglichkeit eines etwas ernsteren nächsten Teils offen, der sich mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs und den Jahrzehnten bis in die Gegenwart beschäftigt. Das bräuchte aber ein bisschen einen anderen Ton, weshalb es eine gute Wahl war, den Schlussstrich im Jahr 1918 zu ziehen.
Das Größte Highlight des Buches ist auf jeden Fall die mitgelieferte Audio-CD. Auf dieser CD liest Ludwig Roman Fleischer selbst auf unnachahmliche Weise das gesamte Buch vor. So schön es auch geschrieben ist, ist des Anhören die beste Art Weana Gschicht und Weana Gschichtln zu genießen. Fleischers Präsentation ist einfach unersetzbar. So entfaltet das Buch seine ganze Wirkung.
Wer über die Geschichte Wiens und die Wiener Mundart gleichzeitig lernen will, dafür aber keine faden Lehrbücher konsultieren möchte, oder sich in Abendklassen setzen, der kommt um dieses Buch nicht herum. Es ist der perfekte Mix aus ernster Gesichtsstunde und witziger Unterhaltung. Die Audio-CD tut ihr übrigens zur bedingungslosen Kaufempfehlung.
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Alle Fotos: (c) Sisyphus, heldenderfreizeit.com, Ludwig Roman Fleischer
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.