Viv Albertine war Gitarristin der Slits. In ihrer Biographie erzählt die Punk-Ikone ihr bewegtes Leben. Ein Buch wie eine gute Vinylscheibe.
von Christian Orou
Frauen bekamen in der Unterhaltungsindustrie der 60er- und 70er-Jahre ihren fixen Platz zugewiesen. Sie waren als pflegeleichte Vokalistinnen zu finden, die zu singen hatten, was man ihnen vorlegte. Oder sie dienten als Aufputz im Chor der männlichen Stars. Selten kamen starke, selbstbewusste Frauen ganz nach oben und in die Charts. An diesem Bild hat sich wenig geändert. Ausnahmen wie Adele, M.I.A., Pink oder Björk stehen einer Vielzahl an männlichen Kollegen gegenüber. Dieses Bild ist nicht auf die Popmusik beschränkt. Es zeigt sich im gesamten Bereich der Kunst und Musik. Punk ist da keine Ausnahme.
Viv Albertine schaffte es als eine der wenigen bis ganz nach oben. Sie war Gitarristin der Slits und Teil einer Londoner Szene, der unter anderen Mick Jones von den Clash, John Lydon, besser bekannt als Johnny Rotten und Johnny Thunders angehörten. In ihrer Biographie “A typical Girl” schreibt die Pionierin der Punk-Szene von ihrem außergewöhnlichen Leben.
Inspiriert von den Kinks und Yoko Ono
Zu Beginn erzählt die vielseitige Künstlerin von ihrer Kindheit und Jugend im London der 60er- und 70er-Jahre. Vom Leben eines Mädchens, das mit ihren Freundinnen herumzieht und von vielen Seiten inspiriert wird. Schon sehr früh beeinflussen sie Musikerinnen und Musikern wie den Kinks, John Lennon und Yoko Ono.
Albertine schreibt über diese Einflüsse: „Musiker sind unsere wahren Lehrer. Sie öffnen uns – politisch mit ihren Texten und kreativ mit … Musik.“ So gesehen ist Viv Albertine inzwischen selbst eine großartige Lehrerin, die viele Kids der Generation Punk, vor allem Mädchen, als Vorbild prägte.
Wichtig war nicht Perfektion, sondern Originalität
„A typical girl” ist nicht nur eine Abfolge von Musik-, Sex- und Drogengeschichten. Natürlich war Albertine in den 60ern bei einem Bowie-Konzert, amüsierte sich über seinen ersten, missglückten Stagedivingversuch. Selbstverständlich darf das erste Konzert der Sex Pistols nicht fehlen. In ihrer Biografie erzählt Albertine aber nicht nur Anekdoten und Geschichten aus ihrem Leben. Sie gibt Einblick in die Punk- und DIY-Bewegung. Eine Bewegung, deren kreatives Potential kaum Grenzen gesetzt waren. Wichtig war Originalität, nicht Perfektion. Und wichtig war vor allem, etwas zu tun. Ein Zitat von John Borroughs, das einem Kapitel vorangestellt wird, hat nicht nur für die Karriere von Viv Albertine Gültigkeit, es gilt für die Bewegung: „Spring, dann taucht ein Netz auf.“
Mit 22 kauft sie sich ihre erste Gitarre, ohne vorher je einen Ton, geschweige denn einen Akkord gespielt zu haben. Durch viel experimentieren, ausprobieren und scheitern findet sie schließlich den für sie typischen Sound. Wie viele andere, die damals in der Punk-Szene verankert sind, sucht Albertine bald Anschluss an eine Band. Auf den Satz: „Sie/er versuchten, eine Band auf die Beine zu stellen.“ stößt man oft.
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Ein Buch wie eine LP
Wie eine klassische Vinyl-LP ist das Buch in zwei Teile unterteilt. Die A-Seite behandelt die Kindheit und Jugend von Viv Albertine und ihre Karriere als Gitarristin der Slits. Nach dem dramatischen Ende der Band beginnt die B-Seite und für Albertine das Leben nach der Karriere als Musikerin. Dabei zeichnet sie nicht nur das Porträt einer starken Künstlerin. Sie erzählt die Geschichte einer aufregenden Frau auf der Suche nach jenem Weg, auf dem sie ihre Träume realisieren und leben kann. Ein Weg, der nicht einfach ist, auch geprägt von einer schweren Krankheit .
Das Comeback
Die Kunst lässt Albertine auch nach ihrer Karriere bei den Slits nicht los. Sie arbeitet als Regisseurin, Drehbuchautorin, und Schauspielerin. Am Ende findet sie aber wieder zur Musik zurück. 2012 veröffentlicht sie das Album „The Vermilion Border“. Und sie verfasst ihre Autobiografie.
„A typical girl“ besticht durch einen sehr persönlichen Stil. Sie erzählt ihre Geschichte und gewährt den Leserinnen und Lesern Einblick in ihre Gefühlswelt, lässt sie teilhaben an ihren persönlichen Höhepunkten und Katastrophen.
Wer auf der Suche nach ausgiebigen Fick-, Sauf- und Drogenszenen ist, wird enttäuscht. Für diese Leserschicht hat Albertine im Vorwort die wenigen Stellen mit Seitenangabe angeführt. Wer aber Interesse an der Lebensgeschichte einer charismatischen Frau und kreativen Künstlerin hat und in die Musikszene der 70er- und 80er-Jahre eintauchen will, ist mit „A typical girl“ sehr gut bedient.
Titel: A typical girl
Autorin: Viv Albertine
Verlag: Suhrkamp, 2016
Seiten: 478
Weiterhören: Zum Buch empfiehlt es sich, dem letzte Album von Viv Albertine zu lauschen. Mit „The Vermilion Border“ ist ihr ein tolles Comeback gelungen.
Fazit: Die Biographie von Viv Albertine gibt einen Einblick in die Punk-Szene der 70er- und 80er-Jahre. Sie erzählt aber auch die Geschichte einer großartigen, vielseitigen Künstlerin und außergewöhnlichen Frau.
Der Chefredakteur der Wiener Alszeilen verfasst für heldenderfreizeit.com Buch-, Musik- und Spiel-Rezensionen, ist Video-Redakteur von CU TV und schreibt für das Musikmagazin Stark!Strom. Dazu berichtet er von Konzerten, Sport- und anderen Kulturevents und führt Interviews mit Stars und spannenden Persönlichkeiten.