In Robert Prossers drittem Roman Verschwinden in Lawinen schlägt das Schicksal in Form einer Naturgewalt zu. Aber, wie in Prossers vorherigen Romanen, sind es die Menschen, ihr gesellschaftliches Zusammenspiel und getriebenes Erleben, die Handlung und Spannung vorantreiben.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schrifsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
19. Juli 2023: Tina und Noah, beide jung und einheimisch, werden auf dem Berg, der über ihrem Heimatort thront, von einer Lawine verschüttet. Tina findet man sofort und sie liegt in kritischem Zustand im Krankenhaus. Noah hingegen bleibt vermisst. Schnell formen sich Suchtrupps und das ganze Dorf hält den Atem an. Zu den Suchenden und Bangenden gehört auch Xaver, Tinas Onkel. Erzählt wird fortan die Geschichte des Suchens – nicht nur der Suche nach Noah, sondern auch die Suche der Charaktere nach ihrem Platz in Welt und in Rückblenden eine tatsächliche zweite Suche, nämlich jene nach Xavers abgängigen Großvater vor vielen Jahren.
Die titelgebende Lawine ist in Robert Prossers neuem Roman nicht Protagonist – es handelt sich nicht um eine Katastrophenerzählung im klassischen Sinne. Vielmehr ist sie der Katalysator, der die statische Gegenwart und auch die ferne Vergangenheit in Bewegung setzt. Daher auch die Mehrzahl: Lawinen – als Sinnbild für Unaufhaltsames, für Unvorhersehbares, das die Menschen überrollt, wenn auch manchmal schleichend langsam. Das Unglück weckt alte Geister, Erinnerungen an Ereignisse, die erst im Rückblick ihre Tragweite und Bedeutung offenbaren.
Der schleichende Verfall von Xavers Mutter, die nach dem Verschwinden des Großvaters dem Alkohol verfällt, die Vorhersehbarkeit ihres Unglücks, ist auf einmal in der Rückschau so klar zu sehen, wie Xaver es, während es geschah, nie sehen konnte. Und über allem thront der Berg. Ein Massiv, das in seiner Erhabenheit Bedeutung suggeriert. Auf dem Berg geschieht das Unglück. In den Hängen nahe des Berges verschwand der Großvater. Hoch oben wohnt der Einsiedler, der die Verunglückten auspendelt. Aber bei genauer Betrachtung kann der Berg auch einfach nur ein Dreieck in der Landschaft sein, rundum das die Menschen ihre Geschichten spinnen.
Verschwinden in Lawinen ist aber auch die Geschichte einer über Generationen weitergegebenen Ausgrenzung. Xavers Familie betreibt ein Hotel, das vom Großvater gebaut wurde. Es steht am Rande, außerhalb des Dorfes und auch die Familie steht außerhalb. Sie stammen von verarmten Bauern ab, die schon vor langer Zeit ihren Hof, ihre Zugehörigkeit verloren haben. Die viel größeren Hotels und umgebauten Höfe der landbesitzenden Familien stehen dem vergleichsweise jungen, selbstgebauten Haus feindselig gegenüber. Xavers Vater ist ein hängengebliebener Tourist aus Deutschland. Klassenunterschiede, Machtgefälle sind ständig unterschwellig spürbar. Beispielsweise auch in Xavers Erinnerung an das wohlhabende Paar aus Frankfurt, das früher immer zu Gast kam und wie unterwürfig man ihnen entgegentrat.
Strukturell verläuft der Roman recht klassisch auf zwei Ebenen, die wir beide streng durch Xavers Augen erleben. Ausgelöst von dem Lawinenunglück und der damit einhergehenden allgemeinen Verunsicherung werden auf einmal viele unausgesprochenen Traumata aktuell oder zeigen sich erst. Angenehm unaufgeregt und ohne jede Effektheischerei erlaubt Prosser den Emotionen sich langsam aufzubauen und zu verdeutlichen. Die Alkoholsucht von Xavers Mutter ist ein perfektes Beispiel: ihre Verzweiflung findet sich zwischen den Zeilen und der Roman erlaubt einem zuerst selbst auf den Gedanken kommen, dass sie doch recht viel trinkt, bevor es explizit ausgesprochen wird.
Sprachlich bleibt der Roman genauso wie erzählerisch auf dem Boden, ist reduziert, ökonomisch. Er beschränkt sich nur auf das Notwendigste an stilistischen Spielereien und entwickelt die Handlung effizient und schnörkellos. Prosser setzt literarische Nadelstiche, zieht wenige wichtige Szenen in die Länge und malt in anderen breit angelegte Bilder, die trotzdem die passenden Impressionen vermitteln. Was Robert Prosser auf 200 Seiten konstruiert braucht bei anderen 600.
Verschwinden in Lawinen ist ein spannender, emotional aufrüttelnder und geradliniger Roman über Kontrollverlust, Naturgewalten und Selbstbewältigung. Er kann jedem Freund unprätentiöser und gleichzeitig vielschichtiger Literatur ans Herz gelegt werden.
Verschwinden in Lawinen ist im Februar 2023 im Jung und Jung Verlag erschienen.
In unserem Leser-Bereich findest du Buchtipps, Rezensionen und alles aus der Welt des geschriebenen Wortes.
GEORGE LUCAS: DER LANGE WEG ZU STAR WARSmes
STYX von Jürgen Bauer
CONTENT von Elias Hirschl
WEIL DA WAR ETWAS IM WASSER von Luca Kieser
VERPASST von Hannah Oppolzer
Buchtipps 2022 – Peters 5 Top-Empfehlungen
Die besten Bücher 2021: 12 Empfehlungen
FEUCHTES HOLZ von Sophia Lunra Schnack
DAS CAFÉ OHNE NAMEN von Robert Seethaler
GÜNTHER von Andi Appel
DIE BIBLIOTHEKARIN von Peter Marius Huemer
DIE INKOMMENSURABLEN von Raphaela Edelbauer
MAUERN von Paul Auer
WAS ÜBER FRAUEN GEREDET WIRD von Mieze Medusa
DAS GRAB VON IVAN LENDL von Paul Ferstl
DAS JOURNAL DER VALERIE VOGLER von Constantin Schwab
TOD AM NEUSIEDLER SEE von Lukas Pellmann
Wiener Buchhandlungen: Die 12 besten Läden der Stadt
Aufmacherfoto: (c) heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.