Vampire treiben in London ihr Unwesen. Du spielst in Vampyr den Arzt und Blutsauger Jonathan Reid – stürzen deine Entscheidungen die Stadt ins Chaos oder willst du die Bevölkerung retten? Das neue Spiel der Life is Strange Entwickler im Helden-Test.
8. Juni 2018: Mensch sein kenn’ ich, das ist ganz ok. In dem gerade erschienenen Vampyr kann ich hingegen ein Fürst oder (von mir aus) ein Fuss-Soldat der Finsternis sein, ein Vampir. Nicht auf einer mittelalterlichen Burg im übrigens wunderschönen Transylvanien, sondern im Herzen Londons.
Vampyr spielt im Jahre 1918, am Höhepunkt der Spanischen Grippe*. Als das britische Empire noch keine Grenzen kannte, die Metropole an der Themse aber gerade dabei war von New York als größte Stadt der Welt abgelöst zu werden. Genug Blutbeutel auf zwei Beinen also, um dem vampirischen Durst Einhalt zu gebieten – würde man meinen.
Vampyr dreht sich halb-openworldig um vier Bezirke Londons und stellt dem Spieler 64 einzigartige Charaktere vor. Diese NPCs, die zu Freunden, Feinden und Opfern werden können, bestimmen das Straßenbild. Alle mit eigener, detaillierten Geschichte und wild divergierenden Dialogoptionen. Untereinander pflegen sie Beziehungen. Der Ambulanzfahrer hat etwa ein Gspusi mit der Krankenschwester. Ein Dichter kennt die intimsten Geheimnisse der stummen Floristin etc. Entwickler Dontnod hat mit Life is Strange schon gezeigt, wie man Figuren Leben einhaucht. Das könnte auch so bleiben, wäre da nicht dieser fast unstillbare Hunger. So ein berauschender Gesprächspartner ist Thomas nicht, den können wir bei Gelegenheit aussaugen. Fräulein Camellia hingegen, die wirkt schon sympathisch – besser wir lassen heute den Mitternachts-Snack aus.
Als Spieler schlüpfst du in die Rolle des Arztes Jonathan Reid, eines frisch gebackener Vampirs. Die Umstände deiner Verwandlung sind anfangs unklar. Eines ist jedoch gewiss, du hast Durst. Durst auf Mensch. Deine menschliche Seite wehrt sich aber noch gegen diesen Trieb. Je besser du die Bewohner Londons kennenlernst, desto schwieriger wird es für dein Gewissen, sie auszusaugen.
Das Buffet à la personne wird umso schmackhafter, je mehr du über einen NPC weißt. Schmackhafter im Sinne von Erfahrungspunkten. Ist der Mensch gesund und ausgeforscht bekommst du für den Todesbiss die meisten XP. Und diese XP sind sonst sehr rar. Gegnergruppen, die durch das nächtliche London ziehen, geben nur ganz wenig davon her, abgeschlossene Quests sind da auch eher zurückhaltend. Ein kluger Kniff der Entwickler. Bedienst du dich gewissenlos an jeder Person wirst du naturgemäß stärker und bekommst schneller Zugriff auf vernichtende Fähigkeiten. Aber steckt nicht noch ein Funken Menschlichkeit in dir?
Auf der mechanischen Ebene schauen wir Dr. Jonathan Reid in klassischer Third-Person-Manier über die Schulter. Markieren Gegner, knüppeln mit Machete oder Keule auf ihnen herum, achten dabei auf unsere Ausdauer und lösen uns beizeiten kurzfristig in Rauch auf. Dazu gibt es noch allerlei Vampir-Fähigkeiten, die den Doktor heilen oder ihn zu einem wilden Tier machen. Aber viel wichtiger als die Kämpfe sind die Unterhaltungen mit Patienten deines Krankenhauses und Leuten auf der Straße. Mit selbst zusammengebrauten Tinkturen heilst du die Bewohner Londons von der Grippe oder linderst ihre Symptome. Was sich prinzipiell selbstlos anhört, führt auch zu einer höheren XP-Ausbeute, solltest du zwischendurch Hunger bekommen. Jeder tote Zivilist stürzt seinen Bezirk aber ein bissl ins Verderben. Kippt die zarte Balance, bricht Chaos aus.
London hat seit Assassins Creed Syndicate nicht mehr so gut ausgesehen. Glaubhaft vermitteln Rauchschwaden und spärlich beleuchtete Durchgänge die düstere Atmosphäre. Leider lässt die Performance auf den Konsolen zu wünschen übrig. Mit einem starken Rechner können die technischen Macken kompensiert werden. Auf PS4 und Xbox One muss man sich jedoch mit den niedrigen bzw. holprigen Frameraten abfinden. Verbesserungen für die PS4 Pro und Xbox One X sind rein graphischer Natur.
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In Filmen und Serien werden Vampire regelmäßig interviewt, aufgepiekst, verlieben sich in draufgängerische Blondinen oder glitzern in der Sonne. In Spielen fristen die Blutsauger hingegen ein Nischendasein. Seit dem famosen Vampire: The Masquerade – Bloodlines (2004) ist die Quelle quasi trocken. Frühere Spielereihen wie Castlevania (Fans sollten sich unbedingt die Netflix-Serie reinziehen), Legacy of Kain oder Bloodrayne haben seit Ewigkeiten keine Nachahmer gefunden.
Vampyr konzentriert sich auf das Wesen der Vampire anstatt nur auf ihre Fangzähne. Die Gesprächsoptionen sind erfrischend und oft durchdacht. Leider lassen sich Dialoge nicht Zeile um Zeile vorspringen, sondern nur die gesamte Antwort überspringen. Bei der Menge an Text kann einem schon mal das Gesicht einschlafen bis man eine vollständige Antwort bekommen hat.
Action gibt es natürlich auch, und nicht zu knapp. Mit Maus und Tastatur völlig unspielbar (schwammige Bewegungen raubten mir den Verstand) haben die Kämpfe mit dem Controller einen guten Rhythmus. Ausweichen, hinhauen, Ziel wechseln, einen kleinen Bissen setzen. Leider merkt man an vielen Ecken und Enden den fehlenden Feinschliff. Die Welt besteht aus vielen Schlauch-Levels mit vielen wiederkehrenden Assets. An jeder zweiten Ecke parkt der gleiche Truck mit der gleichen Beladung.
Abgesehen von den technischen und gelegentlichen Dialog-Fehltritten macht Vampyr aber richtig Spaß. Moralische Entscheidungen gekoppelt mit Spielmechaniken sind faszinierend. Frustrierend nur, wenn das Spiel einem dann keine Wahl lässt oder für einen die falsche trifft. Die lebendige Welt mit interagierenden Charakteren zieht einen aber immer weiter hinein und stellt einem immer öfter die Frage: Sind Erfahrungspunkte wichtiger als das Wohlbefinden der Stadt?
Vampyr ist seit 5. Juni für PC (auf Steam), Xbox One und PS4 erhältlich.
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Alle Bilder (c): Dontnod
* Die Spanische Grippe forderte Anfang des 20. Jahrhundert weltweit bis zu 50 Millionen Todesopfer. Ursache war vermutlich ein Grippeausbruch in den USA der sich wegen des Ersten Weltkriegs in ganz Europa verbreiten konnte. Der Name entstand nachdem in Spanien die ersten unzensierten Berichte über die Seuche veröffentlicht wurden. Unter den Toten: Egon Schiele und Frederick Trump, Großvater des amerikanischen Präsidenten.
Der Grafiker und Art Direktor (Helden der Freizeit, Styria Verlag) aus Wien ist ein absoluter Game- und Film-Kenner. Das zeigt das in seinen Tests und Bestenlisten.