In The Room Next Door, der in Venedig den Goldenen Löwen gewann, setzt sich Pedro Almodóvar mit vielen seiner altbekannten aber auch mit brennenden neuen Themen auseinander.
von Susanne Gottlieb, 20. 10. 2024
Fast wirkt es wie eine Chimäre. Ein spanisches Drama, kreisend um Leben, Lust und Tod, dem ein anglo-amerikanisches Setting übergestülpt wurde. Trotzdem – es ist unverkennbar Pedro Almodóvar, der sich hier als kreatives Mastermind hervortut. Der spanische Altmeister und Oscargewinner konnte im September beim Filmfestival in Venedig mit seinem englischsprachigen Debüt seinen ersten großen Gewinn bei einem Festival einfahren: Er gewann den Goldenen Löwen für den Besten Film. Ein wenig unerwartet, den Favoriten hätten viele woanders gesehen. Aber dennoch eine wundervolle Würdigung seiner Karriere.
Bevor der Film am 24. Oktober zu uns ins Kino kommt, verraten wir dir in unserer The Room Next Door Kritik, um was es geht und wie wir ihn beurteilen. Weitere Filmstarts des Monats findest du hier.
Die New Yorker Autorin Ingrid (Julianne Moore) fürchtet sich dermaßen vor dem Tod, dass sie sogar ein Buch darüber geschrieben hat. Doch dann wird sie doch mit ihm konfrontiert, als ihre alte Freundin, die Kriegsjournalistin Martha (Tilda Swinton), wieder in ihr Leben tritt. Diese ist an Gebärmutterhalskrebs erkrankt, und Ingrid nutzt die Chance, sie im Krankenhaus zu besuchen. Martha ist zunächst auch optimistisch, dass sie den Krebs schlagen wird, und die beiden Frauen näher sich langsam wieder an. Man redet über die letzten Jahre, die Erfahrungen, das Leben, unter anderem auch den gemeinsamen Ex-Liebhaber Damian (John Turturro).
Doch die Hiobsbotschaft, dass die Metastasen zurückgekehrt sind, folgt alsbald. Marthas Überlebenswahrscheinlichkeit sind gleich null. Sie ist am Boden zerstört, aber wild entschlossen, sich nicht mit Chemo und Schmerzen die letzten Monate ihres Lebens zu ruinieren. Martha besorgt sich im Darknet eine tödliche Pille und tritt mit einer sehr ungewöhnlichen Bitte an Ingrid heran. Sie solle sie für einen Monat in ein Haus in den Bergen begleiten. Dort wolle sie in ihren letzten Tagen Gesellschaft haben, und wissen, wenn sie sich dann entschließt die Pille zu nehmen, dass jemand der ihr nahe steht im Zimmer nebenan ist …
Basierend auf dem Roman What Are You Going Through von Sigrid Nunez lässt sich Almodóvar zu Beginn viel Zeit, um seinen Film so etwas wie ein Tempo zu geben. Das ist auch der kulturellen Transplantation seiner Dialoge geschuldet, die langen philosophischen Abhandlungen seiner Figuren, die so lebhaft im Spanischen und dem brütend heißen Madrid wirken, und so sperrig im unterkühlten Englischen.
Erst in der zweiten Hälfte, als die beiden Frauen die Stadt verlassen und im Hinterland von New York in das Haus einziehen, entspinnt sich eine zusammenhängendere, emotional andockbare Handlung. Moore und Swinton, die beide ihre Nominierung für den Oscar einreichen werden, spielen sich gekonnt die Bälle zu, oft mit der Absicht ihre doch sehr unterschiedlichen Zugänge zum Tod zu reflektieren, ihre Ängste und die große Bürde, die Martha hier auf ihre illegale Mitwisserin Ingrid abladet. Euthanasie ist in den USA immerhin nicht erlaubt.
Gleichzeitig reflektiert Martha auch über ihr bisheriges Leben, ihren Job, ihre Lieben, ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer entfremdeten Tochter. Hier kommen die altbekannten Almodóvar-Themen durch, die man aus seinem spanischen Oeuvre kennt. Doch Liebe, Sexualität, Mütter, Tod und Trauma sind Themen, die sich in jedem Kulturkreis ihre kleine Kerbe ausschlagen können. Der Altmeister zeigt sogar, dass er durchaus bereits ist, seinen Themenkreis zu erweitern. Ex-Lover Damian philosophiert ebenfalls über das Ende. Aber das Ende, dass uns erwartet, da wir den Planeten verdrecken und den Klimawandel miterleben. Ingrid will davon nichts hören. Es gäbe auch Wege, in der Misere glücklich zu existieren.
Der Film lebt ebenso von der Suspense, nie genau zu wissen, wann Martha sich das Leben nehmen wird. Sie erklärt Ingrid, dass sie ihre Schlafzimmertür jede Nacht einen Spalt offen lassen wird, wenn sie schläft. An dem Morgen, an dem sie geschlossen ist, wird sie nicht mehr da sein. Dennoch gehen die beiden einem abwechslungsreichen, von Spaß und Gelächter geprägten Alltag nach. Almodóvar mag sich intensiv mit dem Tod auseinander setzen. Aber er findet auch die Schönheit im Leben, die dazwischen immer wieder hervorblinzelt.
Martha mag am Ende ihrer Reise im Leben angekommen sein. Doch sie ist kein Opfer ihrer Umstände, sie nimmt vielmehr ihr Schicksal selbst in die Hand. Ob man sich nun einer politisch-gesellschaftlichen Debatte um die Frage der Euthanasie hingeben will, bleibt jedem selbst überlassen. Doch im Endeffekt ist jetzt vielleicht nicht einmal ihr unausweichlicher Tod, der hier das entscheidende Element der Handlung ist. Vielmehr ist es wunderschön zu beobachten, wie zwei Freundinnen sich wieder annähern, die das Leben (wie man es kennt) auseinander hat driften lassen, sich wieder annähern. Denn letztendlich sind wir als Menschen vergänglich. Aber die Erinnerung, die Bedeutung für andere, die tragen wir weiter.
Ein teils holpriges, aber dennoch gelungenes englischsprachiges Debüt für Pedro Almodóvar und ein bezaubernder Film über die Macht der Freundschaft und die Würde des Sterbens.
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Aufmacherfoto: (c) Warner Bros
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.