Lydia Tár ist Dirigentin, musikalisches Genie und ein Wirbelwind – und nichts weniger ist auch Cate Blanchett, dieses Jahr heiße Anwärterin für die Oscars (unsere Oscar-Preview hier). Die Ausnahme-Schauspielerin bietet ein weiteres Meisterwerk, das man unbedingt gesehen haben sollte. Unser Review zum Kinostart.
von Susanne Gottlieb
Es passiert nicht oft, dass US-Regisseur Todd Field einen Film dreht. In the Bedroom und Little Children waren bisher die einzigen beiden Langspielfilme des Künstlers. Doch schon da bewies er, mit welcher Brillanz er Menschen und ihre dunkelsten Seiten beobachten kann. Nun liefert er mit Tár sein erstes Meisterwerk ab. Das liegt zum Teil natürlich an dem genialen Drehbuch und der Inszenierung. Aber auch an einer beeindruckenden Hauptdarstellerin. Die unvergleichliche Cate Blanchett ist Lydia Tár, ihre Geschichte eine von Machtrausch- und missbrauch, Konkurrenz und Allüren.
Wir verraten euch, warum ihr diesen Film, der ab 2. März auch endlich bei uns im Kino startet, auf keinen Fall verpassen solltet. Und was läuft noch im Kino? Hier alle Kinostarts des Monats und 5 weitere Top-Tipps für dich. Darunter der ebenfalls oscarreife und gerade bei uns im Kino gestartete The Fabelmans (hier unsere Kritik). Und John Wick 4 (hier in unserer Review).
Lydia Tár (Cate Blanchett) ist eine Ausnahmeerscheinung im Kulturbetrieb. Eine Frau, die es in den knapp bemessenen Olymp der Stardirigenten geschafft hat, und das als Frau. Dabei ist sie auch gut beschäftigt. Seit einiger Zeit leitet sie als Chefdirigentin die Berliner Philharmoniker, mit denen sie Gustav Mahlers 5. Symphonie neu aufnehmen will. Mit dem Hobby-Dirigenten Eliot Kaplan (Mark Strong) leitet sie die Accordion Foundation, die Dirigentinnen fördern soll. Auch daheim scheint auf den ersten Blick das ideale Familienleben vorzuherrschen. Partnerin Sharon Goodnow (Nina Hoss) und die gemeinsame Tochter vervollständigen das Glück.
Doch wer weiß, ob es die lange Position an der Spitze war oder ein intrinsischer niederer Drang. Denn Lydia hat etwas zu verbergen. Als sie von einer ehemaligen Accordion Teilnehmerin, Krista Taylor, ein Buch mit persönlicher Widmung zugeschickt bekommt, bittet sie ihre Assistentin Francesca Lentini (Noémi Merlant) es zu entsorgen. Diese scheint sie auch bei der Benennung eines neuen Asisstenzdirigenten zu übergehen. Bei einem Gastvortrag in Juillard fordert sie einen Studenten auf, weiße cis-Dirigenten nicht als Künstler abzuweisen, macht sich aber auch über ihn lustig. Und letztendlich ist da noch Olga Metkina (Sophie Kauer), eine Cellistin, die sich um eine Position im Orchester bewirbt, und deren Bewerbung Lydia manipuliert. Als sich Krista, die Lydia Tár bestimmte Fehlverhalten vorgeworfen hat, umbringt, und auch Sharon und Francesca merken, dass sich Lydia zu Olga hingezogen fühlt, beginnt Lydias Imperium langsam Risse zu bekommen.
Viel wurde seit der Veröffentlichung des Films bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig diskutiert. Die egozentrische Lydia Tár würde ein schlechtes Bild auf Frauen werfen, warum man hier nicht einen Mann hätte zum Protagonisten hätte machen können. Weibliche Dirigentinnen, die namentlich genannt wurden, distanzierten sich von dieser Darstellung. Aber gerade, dass hier eine Frau aufzeigt, dass auch das weibliche Geschlecht nicht vor Machtmissbrauch gefeit ist, und dabei, als Opfer noch weniger Gehör findet, wenn der Täter eine Frau ist, macht den Film unter anderem so interessant.
Lydia Tár ist eine jener Frauen, die männliche Eigenschaften vereinnahmen, um sich gegen deren Konkurrenz durchzusetzen. So, wie sie versucht Kristas Beschwerde im Kern zu ersticken, oder Francesca, eine weibliche Kandidatin, übergehen will, erinnert das an jene #MeToo und #TimesUp Beschwerden, die man schon so oft gehört hat. Ist es eine Notwendigkeit, sich wie ein Mann zu verhalten, um Erfolg zu haben? Oder hat Lydia einfach, wenn sie den Bully ihrer Tochter bedroht, oder einen Studenten provoziert, der nicht Bach spielen will, weil das ein weißer Cis-Mann ist, das Gefühl für die Realität verloren?
Der Film stößt vor allem in diesen Momenten eine interessante Diskussion an. Wenn wir gegen alles sind, werden wir irgendwann für nichts mehr sein, lautet die Botschaft. Doch wir bewegen uns in dem Sumpf, in dem an jeder Ecke eine neue Empörung auftaucht. Und so lässt das brillante Skript von Todd Field einen lange selbst im Unklaren, wie man bezüglich Lydia Tár fühlt. Tendiert man zu Beginn noch zu einem Verständnis, dass man vieles gerade als Frau brutal erkämpfen muss, so bricht ihre dunkle Seite langsam, fließend, immer weiter durch die Wand, die ihre kühle, stoische, professionelle Art ist.
Cate Blanchett präsentiert sich als Lydia erneut auf einem Karrierehöhepunkt, ihr könnte bei den Oscars nur noch Michelle Yeoh für Everything, Everywhere, All At Once gefährlich werden. Aber auch ihre Mitspieler halten ihr Gravitas. Die wie immer großartige Nina Hoss, oder Newcomerin und tatsächliche Cellistin Sophie Kauer. Der Moment, als Lydia Olga fragt, ob sie eine gewisse Melodie in dieser oder jener Schallplattenedition zum ersten Mal gehört habe, und diese beiläufig antwortet, es sei YouTube gewesen, ist Comedy-Gold. Wer selber einmal ein Instrument gespielt hat, wird sich zudem an der präzisen Beobachtung des Musikbetriebes erfreuen können. Aber, in erster Linie an Cate. Der brillanten Cate und der menschlichen Ambivalenz, die sie aus Lydia rauzuholen vermag.
Cate Blanchett und Todd Field präsentieren einen der besten Filme, die man dieses Jahr sehen wird. Unbedingt im Kino ansehen.
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Aufmacherfoto: (c) Universal Pictures
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.