Was, wenn ein mysteriösen Virus die Menschheit dahin rafft – klingt bekannt? Ist aber die Ausgangssituation in der Comicvorlage Sweet Tooth von Jeff Lemire. Der größte Unterschied: In dieser, um vieles verheerenderen, Apokalypse werden mysteriöse Mensch-Tier-Hybriden geboren. Ob sich diese bizarre Geschichte auszahlt, lest ihr hier.
von Susanne Gottlieb
4. Juni 2021: Ein Virus, das Schicksal der Welt, soziale Probleme, die Illusion eines Landes – der kanadische Comicbuchzeichner Jeff Lemire hat viel in sein Sweet Tooth hineingepackt. Der Kampf der letzten Menschen ums Überleben und die Genese einer neuen Lebensform aus Mensch-Tier-Hybriden, und das alles in einem vom Überlebenskampf gezeichneten postapokalyptischen Amerika. Sweet Tooth als Vorlage kommt definitiv aus einer Nische und es ist interessant zu sehen, dass der Massen-Streamingdienst Netflix sich so einer Geschichte annimmt.
Doch hat Netflix mit der Adaption einen Nerv getroffen? Seit heute ist die Serie auf der Plattform verfügbar. Für alle, die nicht warten wollen, verraten wir es hier.
Zehn Jahre vor der Geburt von Gus (Christian Convery), ein Mensch-Hirsch-Hybrid, kommt es zum “Great Crumble”. Ein tödliches Virus greiftum sich und bringt große Teile der Weltbevölkerung um, die nie ein langfristiges Heilmittel findet. Gleichzeitig werden die ersten Hybriden geboren. Unsicher, ob diese ein Produkt des Virus sind, oder es ausgelöst haben, werden sie fortan von den letzten Menschen gejagt. Gus Vater (Will Forte) zieht sich mit Baby Gus schon zu Beginn des Crumble auf ein kleines, eingezäuntes Reservat im Yellowstone Park zurück. Seinem Sohn, der recht unbekümmert heranwächst, erzählt er aber nie, was in der realen Welt vor sich geht. Noch, dass Gus insofern außergewöhnlich ist, als dass er anscheinend älter ist als der Beginn des Virus selbst.
Zeitgleich muss Dr. Singh (Adeel Akhtar) mit ansehen, wie die Zivilisation um ihn herum zusammenbricht und sich auch seine Frau infiziert. Er schafft es mit ihr in eine abgesicherte Community und erhält sie mit Medikamenten am Leben. Als die Ärztin stirbt, will sie, dass Dr. Singh die Forschung an einem Heilmittel weiter führt. Mit seiner Frau als Patient würde er die notwendige Determinierung mit sich bringen. Doch Dr. Singh weiß, mit welchen unethischen Methoden diese Mittel entwickelt werden.
Die Zivilisation und das Virus machen auch nicht ewig vor Gus und seinem Vater halt. Sein Vater wird von Hybrid-Jägern attackiert und stirbt am Virus. Gus wird beinahe verschleppt, aber vom mysteriösen Jepperd (Nonso Anozie) gerettet. Er bittet den widerwilligen Nomaden, ihn nach Colorado zu bringen, da er dort seine Mutter vermutet. Doch wie er bald feststellen muss, ist die Welt da draußen noch größer und gefährlicher als er sich das vorgestellt hatte.
Sweet Tooth ist sicher nicht etwas für jeden. Vielen wird es so gehen wie uns: Man respektiert die gelungene Machart der Serie, findet aber selber nie ganz in die Thematik hinein. Vor allem in Zeiten von Corona ist es auch immer eine Geschmackssache, wie sehr man sich fiktiven Virusapokalypsen aussetzen will. Doch Sweet Tooth gelingt etwas anderes sehr gut. Es hinterfragt geschickt unsere Zivilisation, unsere Schwächen und falschen Vorstellungen. Das obligatorische “Menschen machen den Planeten kaputt” darf hier natürlich nicht fehlen, aber es dominiert die Geschichte nicht, sondern baut sich vielmehr als Ausgangssituation auf.
Die Serie ist eher an den Überlebensinstinkten interessiert, wie sich eine Welt vor ihrem Untergang organisiert. Das verzweifelte Festklammern an Normalität, die Konstruktion von Safe Spaces für die Menschen, wird weniger als Sci-Fi transportiert, sondern geerdet in rationalen Überlegungen. Auch Gus Darsteller Convery vermittelt seine Figur als einfachen kleinen Jungen, der aber ein paar besondere tierische Fähigkeiten hat. Eine neue Gattung, geprägt von der Welt der Menschen, aber im Aufbruch, eine eigene Gesellschaft mit seinen Artgenossen zu gründen. Doch im Moment sind erst mal die Mama und das Naschen von möglichst vielen Süßigkeiten interessant – daher auch der Serienname Sweet Tooth.
Verpackt ist das Ganze auch in wunderschöne Szenerien, atemberaubende Aufnahmen von amerikanischen Nationalparks und einer Erdverbundenheit, die einen durchaus nachdenken lässt, wie viel wir als Gesellschaft uns von den natürlichen, einfachen Dingen abgewandt haben. Mit viel Weitwinkel und einem bewusst, nicht überstilisiert wirkenden Production Design hebt sich Sweeth Tooth durchaus durch eine gewisse Sauberkeit von den üblichen visuellen Standards seines Genres ab.
Sweet Tooth ist als Produkt durchaus Geschmackssache. Die Serie macht aber Spaß und bleibt spannend.
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Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.