Jahrzehntelang nötigte der Hollywood-Produzent Harvey Weinstein junge Frauen zu sexuellen Handlungen. 2017 brachten ihn zwei unabhängig voneinander recherchierte Artikel zu Fall. Dies ist die Geschichte von Jodi Kantor und Megan Twohey, zwei New-York-Times-Reporterinnen.
von Susanne Gottlieb
7. Dezember 2022: Investigativfilme gehören gemeinhin oft zu Klassikern des Kinos, wie der Pate aller Journalistenfilme, Die Unbestechlichen, über den Watergate Skandal, oder der vor ein paar Jahren erschienene Spotlight über die Missbrauchsfälle der katholischen Kirche. Was hätte sich hier besser geeignet, als die mit einem Pulitzerpreis ausgezeichnete Recherche jener Menschen zu verfilmen, die Harvey Weinstein zu Fall brachten? Jener mächtige Produzent, dessen Abgang die weltweite Bewegung #metoo auslöste?
Gemeinhin wird in diesem Zusammenhang oft vom Reporter Ronan Farrow und seinem The New Yorker Artikel geredet. Doch noch bevor Farrow den ganzen Ruhm einheimste, waren es Jodi Kantor und Megan Twohey, die das Thema erstmals in der New York Times aufgriffen. Die deutsche Maria Schrader hat deren Geschichte nun verfilmt. Leider entpuppte sich der Film in den USA bereits als Riesenflop. Zu Unrecht. Wir verraten euch, warum er durchaus sehenswert ist.
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Das Jahr 2016. Eine Zeit des Umbruchs. So fleißig Megan Twohey (Carey Mulligan) auch recherchiert hat, die sexuellen Übergriffe von Donald Trump aufgezeigt hat, den Wählern ist es egal. Sie wählen den Millionär zum Präsidenten. Frustriert verabschiedet sich Twohey erstmals in die Babypause. Inzwischen möchte ihre Kollegin Jodi Kantor (Zoe Kazan) weiter nach Missbrauchsfällen in anderen Branchen recherchieren. Dabei stößt sie auf Hinweise, dass der mächtige Hollywoodproduzent Harvey Weinstein sich wiederholt an Frauen vergriffen haben soll. Mit der Zusage ihrer Chefs Dean Baquet (Andre Braugher) und Rebecca Corbett (Patricia Clarkson) beginnt sie zu recherchieren.
Mit der zurückgekehrten Megan, die sie nun unterstützt, stehen die beiden aber bald vor großen Herausforderungen. Zeuginnen und Überlebende haben sie viele. Doch die meisten, wie Rose McGowan, Ashley Judd oder Gwyneth Paltrow wollen nicht öffentlich darüber reden. Zu oft wurden sie von den Medien bereits als lächerlich abgetan. Jene, die für die Weinstein Company gearbeitet hatten, wie etwa Laura Madden (Jennifer Ehle), Zelda Perkins (Samantha Norton) oder Rowena Chiu (Angela Yeoh) sind zu traumatisiert, wurden nie ernst genommen oder haben umfangreiche Verschwiegenheitsklauseln unterschrieben.
Um Harvey Weinstein zu Fall zu bringen, müssen Megan und Jodi daher nicht nur das Vertrauen dieser Frauen erlangen. Sie müssen ihnen auch garantieren, dass ihre Stimme gehört wird. Was sie gesagt hat, (what) she said, das ist wichtig und relevant. Und sie müssen sich die Weinstein Company vom Hals halten, die auf die Recherchen aufmerksam geworden ist.
Warum sollte man diesen Hollywood-Schauspielerinnen eine Stimme geben, fragt Megan zu Beginn. Immerhin hätten sie bereits die Öffentlichkeit. Doch darum ginge es nicht, sondern darum, dass ihnen jemand glaubt. Eingebettet zwischen dem Beginn der Trump-Jahre und #metoo wirkt es oft, als würde man noch in eine ganz andere Ära blicken, und das, obwohl die Veröffentlichung des Weinstein-Skandals 2017 gerade einmal fünf Jahre her ist. Doch das macht den Film bereits gleich zu Beginn so faszinierend. Eine dunkle Erinnerung daran, wie Frauen aus Prinzip sehr lange noch diskreditiert wurden. Und wie jahrzehntelang ein mächtiges System erhalten wurde, in denen Frauen und Männer dazu beigetragen hatten, dass diese Stimmen schnell wieder verschwanden und dass alle wegschauten.
Regisseurin Maria Schrader, die unter anderem für Netflix Unorthodox inszenierte (auch in unserer Liste der besten Netflix-Miniserien zu finden) und bei Ich bin dein Mensch Regie führte, nützt den nüchternen Macher-Ton, der diese Investigativ-Filme so auszeichnet, verliert aber auch nie die feinen dramatischen Töne. Hier geht es nicht nur darum, dass die Menschen Angst haben, zu reden. Hier geht es darum, dass Trauma aufgerissen werden, ganze Existenzen am Spiel stehen.
Das will sie bezeiten noch mit einigen Flashbacks zu jüngeren Versionen der Weinstein Company-Angestellten verdeutlichen, auch wenn sich diese oft etwas fehlplatziert und erzwungen anfühlen. In weiser Voraussicht werden aber nie irgendwelche übergriffigen Handlungen gezeigt. Auch Weinstein bleibt bis auf eine Sequenz, in der der Rücken zu sehen ist, stets die gruselige Bedrohung aus dem Off, eine Stimme, die in Telefonaten zu hören ist. Ob es echte Aufzeichnungen sind, sei dahingestellt. Die Credits identifizieren zwar den Donald Trump Stimmenimitator, aber keinen, der für Weinstein diesen Part übernommen hat.
Sollten das wirklich echte Aufnahmen sein, dann verschwimmen hier zusätzlich mit der Tatsache, dass Ashley Judd sich selbst spielt und Gwyneth Paltrow ihre eigene Stimme geliehen hat, die Grenzen immer weiter. Fakt der Geschichte und Fiktion des Films überlagern einander, lassen den Zuschauer immer wieder realisieren: Das ist nicht nur eine gruselige Geschichte aus Hollywood. Das ist in der Form wirklich so passiert.
She Said ist ein spannender, solide gemachter Investivfilm, der einen der größeren gesellschaftlichen Skandale der letzten Jahre gewissenhaft aufarbeitet und uns daran erinnert, wie fragil die Sicherheit von Frauen nach wie vor ist.
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Aufmacherfoto: (c) Universal
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.