He’s still standing. Im gegenwärtigen Trend von schillernden-Musiker Biopics legt nach dem Überraschungserfolg des Queen-Streifens Bohemian Rhapsody im Vorjahr nun Elton John nach. Doch Vergleiche sind nur peripher angebracht. Rocketman ist ein mitreißendes Musical über eine Musiklegende, das fast alle richtigen Töne trifft.
von Susanne Gottlieb, 30. 5. 2019
In der Runde der großen musikalischen Entertainer darf ein Kaliber wie Elton John nicht fehlen. Als einer der meistverkauften Künstler auf der Welt ist er unsterblich geworden, wie etwa durch sein Candle in the Wind bei Prinzessin Dianas Begräbnis im Jahr 1997. Seine Songs haben Generationen an Musikfans seit den 60ern geprägt (lest hier unsere Top-10 seiner großartigsten Lieder). Im Zuge seiner Abschiedstournee Farewell Yellow Brick Road kommt nun auch seine filmische Biographie in die Kinos. Ein Werk, das Elton und sein Ehemann David Furnish rund 20 Jahre umzusetzen versuchten.
Mit Regisseur Dexter Fletcher, bekannt für Filme wie Eddie the Eagle (ebenfalls mit Taron Egerton) und als Ersatzregisseur für Bohemian Rhapsody (er übernahm nachdem Bryan Singer gefeuert wurde) wurde dieser Wunsch nun Realität. Und es hat sich durchaus gelohnt. Rocketman hebt das festgefahrene Genre aus seinen Angeln und fügt hier und da einen Spritzer Originalität und Exzentrik hinzu.
Was den Film außerdem sehenswert macht, lest ihr in unserem Review. Und: Wir verschenken hier noch bis Sonntag 2.6. zwei Mega-Pakete zum Film mit Kinotickets, Jacke und Brille. Plus: Unsere Filmkritik zum zeitgleich startenden Godzilla 2 findet ihr hier.
Irgendwann Anfang der 90er stürmt ein Mann im orange-glitzernden Federkostüm in eine Entzugsklinik und erklärt er sei Alkoholiker. Drogenabhängig, sex- und kaufsüchtig. Bei dem Mann handelt es sich um niemand anderen als Elton John (Taron Egerton), der seinem aus den Fugen geratenen Leben wieder Sinn geben will. Ob er sich je geliebt gefühlt habe, steht im Raum. Wie Eltons zahlreiche Rückblenden in die Vergangenheit beweisen, war das Gefühl der Einsamkeit sein ständiger Begleiter. Sein Königsmacher am kreativen Höhepunkt und sein tiefer Sturz, wann immer er zu tief ins Glas oder in die Medikamentenschachtel schaute.
Ignoriert vom Vater (Steve Mackintosh) und vernachlässigt von der Mutter (Bryce Dallas Howard) wächst der musikalisch begabte Reginald Dwight (so Eltons bürgerlicher Name) nur mit der Unterstützung seiner Großmutter (Gemma Jones) auf. Als junger Mann entdeckt er eines Tages eine Anzeige in der junge Musiker für ein Musiklabel gesucht werden. Reggie, der zwar komponieren und singen kann, textlich aber weniger überzeugt, lernt dort Bernie Taupin (Jamie Bell) kennen. Die beiden gehen eine musikalische Partnerschaft ein, die über fünf Jahrzehnte dauern soll.
Als die musikalische Karriere abzuheben beginnt, sieht Elton auch langsam die Schattenseiten des Künstlerdaseins. Zum einen ist da die Frage, ob er seine Homosexualität offen zugeben soll oder nicht. Zum anderen ist da sein Liebhaber, der Produzent John Reid (Richard Madden), der ihn emotional in ein tiefes Loch stürzt. Und letztendlich führt es zur Erkenntnis, dass all der Ruhm nicht reicht, um mit sich selber Frieden schließen zu können.
Es ist vielleicht ermüdend immer wieder Bohemian Rhapsody als Vergleich heranzuziehen. Dennoch muss offen ausgesprochen werden, dass Rocketman all das geworden ist, was “BoRhap” entweder zu feige war zu tun, oder sich höchstens gewünscht hätte, werden zu können. Der Queen-Film hielt es safe, beraubte Freddie seiner schillernden Persönlichkeit und spielte nur an seinem verlorensten Punkt seine Queerness aus. Rocketman ist dagegen eine bunte, musikalische Zelebrierung von Eltons flamboyanter Identität. Er schmeißt eine Musiknummer nach der anderen aufs Parkett und hält sich auch in Sachen Sexualität nicht zurück. Es ist erwähnenswert, dass Rocketman die erste große Hollywoodproduktion ist, in der eine gleichgeschlechtliche Sexszene gezeigt wird.
Drehbuchautor Lee Hall, bekannt für Billy Elliot, schafft es zudem, mit seinem Skript fast alle üblichen Tropen des Genres zu vermeiden. Elton muss nicht wie alle anderen vor dem nächsten Konzert erst über sein ganzes Leben nachdenken, der Film rahmt die Handlung vielmehr geschickt mit regelmäßigen Therapiegruppensitzungen. In diesen verwandelt sich Elton vom orangen Federvieh Stück für Stück immer mehr in Reggie zurück, Goldrahmenbrille und ausgelatschte Trainingsjacke inklusive.
Hier geht es nicht darum den Zuschauer an der Hand zu nehmen und ihm zu erklären, wie und wann welche Musiknummer zustande kam. Es geht im Grunde um einen Menschen, der am Boden ist. Die Kraft, die er und auch jeder anderer in sich finden kann, sich aufzurappeln und weiter zu machen. Die Musiknummern werden hingegen Teil der Handlung selber. Von der Entstehungsgeschichte zwar nicht chronologisch, aber zu jedem Moment passend, brechen Elton und Umgebung in bunte Musicalnummern aus. Rocketman schallt dabei vom Boden des Pools, Bennie and the Jets symbolisiert den Exzess Eltons am Höhepunkt seines Erfolgs. Die Musik bricht nicht nur mit der Realität, sie verfremdet sie, hebt den Film in eine traumhafte Sphäre. Eine Welt, die vermutlich nur Elton sehen kann, und die der Zuschauer für wenige Momente immer wieder betreten darf. Der Film ist nicht einfach ein einfaches Biopic, er ist ein biographisches Musical.
Dabei geht die Effektivität der Musiknummern auch nicht unerheblich auf Hauptdarsteller Taron Egerton zurück, der handverlesen von Produzent Matthew Vaughn hier die beste Performance seiner Karriere liefert. Nicht nur fängt er die Zerbrechlichkeit und die Unsicherheit Eltons, so wie seine typische Gestik und Mimik mikroskopisch genau ein, er singt auch alle Lieder selber. Seine Stimme ist zwar keine Kopie des Originals, aber es hat seine eigene Energie, wenn er wie ein Showman zwischen den Sets hin und her hüpft und voller Inbrunst die nächste Nummer vom Zaun lässt. Es ist schade, wenn man bedenkt, dass Rami Malek erst in der vergangenen Saison alle Schauspielpreise abgeräumt hat. Egertons Leistung wäre auszeichnungswürdig, aber Preisverleihungen wiederholen sich nicht gern.
Ebenfalls hervorragend ist Jamie Bell, der schon vor 19 Jahren als Billy Elliot bei einem Drehbuch von Lee Hall brillierte. Seine Figur Bernie Taupin steht zwar nicht genug im Scheinwerferlicht, um einen seriösen Vergleich zu ziehen, aber er gibt Taupin eine ruhige emotionale Note. Hier ist ein Freund, der Elton jahrzehntelang zur Seite steht. Sollte man dem Film glauben, hatten sie auch noch nie einen Streit. Bryce Dallas Howard glänzt als Eltons bemühte, aber doch fremdelnde Mutter, die ihrem Sohn eiskalt sagt, er würde als schwuler Mann nie geliebt werden können.
Ganz kann der Film den 0815-Situationen aber nicht entkommen. Die klassische „Musiker erlebt erst Höhenflug und dann Drogenabsturz“ Geschichte verlangt geradezu, dass hier Elemente auftauchen, die man schon in anderen Filmen gesehen hat. Da wäre etwa die altbekannte Montage von Konzertauftritten und Zeitungsartikeln, die den Erfolg schnell zusammenfassen. Da ist das altbekannte Foreshadowing in jungen Jahren auf Lieder, die erst viel später entstehen. Und da ist das schicke Haus, in dem der Protagonist vor einem Haufen Medikamentenschachteln versauert. Diese Szenen sind allerdings nur vereinzelt eingestreut und zerstören das allgemeine Vergnügen nicht.
Rocketman ist ein Film, an dem sich künftige Musiker Biopics orientieren müssen, wenn sie nicht wieder in alte uninteressante Muster verfallen wollen. Für Elton John ist es aber hier noch nicht vorbei. Auch wenn er nach seiner dreijährigen Abschiedstour ab 2020 nicht mehr auf der Bühne stehen wird, der Film hat das Zeug dazu den Übergang auf den Broadway zu schaffen und ihn dort noch lange weiter leben zu lassen. (sg)
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Fotos: © Constantin Film
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.