Plantschen im Luganersee, flanieren in Avignon. Wer aus einem EM-Trip nach Bordeaux eine fantastische Tour de France macht, dem kann ein verlorenes Fußballmatch nichts anhaben.
von Anaking
Tante Irmgard hat in Bordeaux Amore gemacht. Okay. Das ergäbe zwar ein schönes Wanda-Cover zum Song Bologna. Passiert ist das freilich nicht. Obwohl – ich war mit Tante Irmgard schon in Bordeaux. Und verliebt haben wir uns auch. Aber in einen Roadtrip.
Dabei haben wir eine Strecke mit dem Auto und Zug zurückgelegt – die uns in direkter Luftlinie von Wien nach Grönland gebracht hätte. 4000 Kilometer – nur um Österreichs 0:2 bei der EM gegen Ungarn zu sehen?
Nicht nur. Denn wir haben eine Reise erlebt von der wir noch lange schwärmen werden. Schuld an unserem Glück ist ausgerechnet die UEFA. Die vergab so viele Karten an Partner, dass wir bei der ersten Ticket-Verlosung wie viele Landsleute durch die Finger schauten.
Mit Verwandten hofften wir auf 40 Plätze. Und bekamen? Null! So hieß es kreativ sein. Wie planst du eine Reise zu einem Match, wenn du noch gar nicht weißt, ob du Karten dafür bekommst? Die Lösung: Sie gleich in einen tollen zehntägigen Roadtrip entlang der Cote d’Azur ausdehnen, damit es so oder so ein Volltreffer wird. Wir wollen ja den Helden der Freizeit alle Ehre machen.
Als dann der UEFA-Ticketshop im dritten Anlauf doch noch Karten ausspuckt, ist die Reise bereits geplant. Das Interesse der 40 Verwandten und Bekannten aber verflogen. Plötzlich droht alles ins Wasser zu fallen. Die Lösung: Georg, der Dad meiner Freundin, bekommt die Reise zum 75. Geburtstag geschenkt, seine Frau Annemarie muss trotz leichter „Reiseallergie“ mit. Und weil Tante Gela nicht frei bekommt, springt Tante Irmgard als frischgebackene Pensionistin in die Presche. Es ist der erste Urlaub ihres Lebens ohne Kinder. Wenn das keine guten Vorraussetzungen sind?
Irmgard lernt das Schnapsen des Westens
Ab geht’s von Wien-Meidling mit Tante Irmgard im Railjet nach Feldkirch. Georg kutschiert uns nach Dafins, wo Irmgard eine Einschulung ins Jassen (das beliebteste Kartenspiel in Vorarlberg und der Schweiz) kriegt. Am nächsten Morgen beginnt der eigentlich Roadtrip.
Zu viert in Georgs Opel-Astra. Das Wetter ist (wie soll ich das diplomatisch ausdrücken?) scheiße. Nebel und Dauerregen, 10 Grad. Ich also im Auto mit drei Pensionisten. Zwei sprechen kein Wort Englisch, keiner Französisch. Und ich habe meines seit dem Vierer in der achten Klasse 18 Jahre nicht mehr ausgepackt. Olala, das wird ein Abenteuer.
Luganersee: Schwimmen mit Schwänen
Erstes Ziel: Ponte Tresa. Warum? Keine Ahnung. Es liegt einfach perfekt zwischen Dafins und Nizza. Einzige Vorgabe: Eine gute Quartier-Bewertung auf booking.com oder Airbnb und Platz für vier Personen. Die erste Unterkunft ist tatsächlich gleich ein Lotto-Sechser. Es empfangen uns 28 Grad, Sonne und ein Steg in den Luganersee, direkt gegenüber.
Wir hüpfen ins coole Nass, Tierflüsterer Georg freundet sich mit zwei Schwänen an und Tantchen verkühlt sich mit ihren nassen Schühchen so arg den Fuß, dass sie am nächsten Tag kaum mehr laufen kann. Gott sei Dank hat Annemarie ihren Obstler zum Einreiben dabei. Hoffentlich hält uns die Polizei nicht auf. Es wäre schwer diesen Duft im Auto zu erklären – vor allem mit meinem Französisch.
Stressige Weiterfahrt. 1.000 Tunnel und LKWs. Als wir Nizza erreichen, nehme ich an einer Kreuzung die falsche Abzweigungen (verdammte GPS-Verzögerung). Ich lande in einer Sackgasse, von der ich nur rückwärts (ohne Sicht!) auf eine fünfspurige Straße zurückschieben kann. Auf der geht es gerade zu, wie in Kairo zur Rush-Hour.
Just in diesem Moment springt Annemarie aus dem Auto, um mir beim Rausschieben zu helfen. Sie meint es nett, aber ich verliere sie fast im City-Gewühl aus den Augen. Keine Ahnung wie ich sie in Nizza wiederfinden hätte sollen. Sie hat kein Handy. Verzweifelt rufe ich sie. Gott sei Dank steigt sie wieder ein.
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In Ermangelung an Parkplätzen stellen wir das Auto auf eine Rechtsabbiegespur und hoffen das Beste. Der Airbnb-Host ist nicht mehr da, aber sein Schlüssel gottlob im Blumentopf. Das Haus sieht von außen aus, als würde es jeden Moment einstürzen. Innen ist das Appartment aber brandneu.
Die berühmte englische Promenade liegt gleich ums Eck. Sie ist allerdings nicht so beeindruckend wie erwartet. Ein gutes Essenslokal finden wir auch nicht. Hätte ich doch mehr im Internet recherchiert. So gibt’s einfach Bier und Baguette im Quartier und dazu das EM-Eröffnungsspiel Frankreich – Rumänien. Denkste! Denn der Fernseher ist hin, schaltet sich alle zwei Minuten ein und aus. Wir holen die Jass-Karten raus.
Das Auto ist noch da. Nicht mal ein Strafzettel. Glück gehabt! Nächstes Ziel: Avignon. Kein Tunnel, kaum Autos, yes! Ich komme in einen angenehmen Rhythmus: Frühstück-Zampacken-vier bis fünf Stunden Autofahren-einchecken-auspacken-Essen-neuen Ort besichtigen-bisschen Bier und EM-Schauen-Schlafen.
Dieses Mal hab ich einen Parkplatz vorab recherchiert. Stressfrei schlendern wir über die Pont Daladier in Avignons Altstadt. Bewundern die fantastische Stadtmauer, die Pont d’Avignon, entspannen am Place Crillon beim Essen unter dem schönsten Baum, den ich je gesehen habe und bestaunen den mächtigen Papstpalast. Ja, und dann entpuppt sich unser günstiges Quartier auch noch als traumhafte Villa (siehe Video: Minute 2:00). 650 Quadratmeter, Terasse, riesen Garten, Pool, Plantsch!
Aufbrechen tut zum ersten Mal weh. In diesem Quartier hätten wir es länger ausgehalten. Hilft nix. Wir fahren nach Carcassonne. Es ist schon ein sehr eigenes Gefühl, für jemand, der das gleichnamige Brettspiel (siehe unsere Story) so oft, so gern gespielt hat. Ich bin etwas aufgeregt zum ersten Mal die Mauern mit diesen spitzen Türmchen zu sehen. Alles wirkt eigenartig bekannt für mich. Der Charme der mittelalterlichen Altstadt vermag mich dennoch nicht zu verzaubern.
Es liegt wahrscheinlich an meiner Massentourismus-Allergie und den Touristenfallen, die sich hier aneinanderreihen. Immerhin ist es einer der meistbesuchtesten Orte Frankreichs. Im Quartier geht jeder Sender, außer der eine, der die EM-Spiele überträgt. Nach zwei Kilometer Fußmarsch ins moderne Zentrum finden wir eine Kneipe. Die zeigt die Spiele auf zwei Flatscreens. Vor dem einen hängt ein Luster, vor dem anderen sitzt eine Frau mit Marge-Simpson-Frisur. Die EM juckt viele Franzosen scheinbar gar nicht. Lieber spielen sie auf der Straße Boggia. Naja, war eh nur ein Deutschland-Sieg zu sehen.
Wir fahren weiter und erreichen endlich unser Ziel. Die EM-Spielstätte. Bordeaux. In der Hausmann-Gossn, pardon, Avenue Haussmann hausen wir zentral und günstig im Appartment einer Studentin. Sie zieht für ein paar Airbnb-Euro zum Haberer. Zusammen mit meinem alten Arbeitskollegen Markus sehen wir in der Fanzone Italiens Sieg über Belgien. Und treffen auf den harten Kern der Österreich-Fans. Der Vorsänger hat sich einen Busch in der Form einer Afro-Frisur geschnappt, stemmt sie wie einen Pokal in den Himmel und stimmt Schneckerl-Sprechchöre an.
Am Matchtag versorgen wir uns in einem Supermarkt, größer als Ikea, schlendern dann durch die Stadt, die bereits von Fans beider Teams belagert wird. In einem Kaffee finden wir uns in einer Horde hunderter singender Österreicher wieder. Gerade als ich die Anrufe einiger Freunde erwarte, die auch in Bordeaux sind, gehen bei meinem Handy alle Lichter aus. Versuch doch mal in einer Gruppe Angetrunkener, jemand mit einem Micro-Sim-Kartenslot deines Mobilfunk-Anbieters aufzuspüren.Viel Glück! Nach einer Stunde gebe ich auf.
Der Springbrunnen am Place de Bourse springt heute leider nicht an, dafür das Handy. Yeah! Vor dem Spiel herrscht im Stadion Gänsehautstimmung. 15.000 Österreicher, 10.000 extrem laute Ungarn. Über das Match legen wir lieber den Mantel des Schweigens. Doch wir merken bald, dass uns die Pleite nicht die Stimmung ob der schöne Reise versauen kann.
Am Rückweg wählen wir den direkten Weg durch Frankreich. Au revoir, Bordeaux! Bonjour, Vichy! Diese Stadt haben wir nur ausgewählt, weil sie auf der Strecke liegt. Sie entpuppt sich wie Ponte Tresa aber als absoluter Glückstreffer. Man kreuze das Schloss Schönbrunn mit Baden und dem Kurpark Oberlaa – voila, fertig ist Vichy. Die Thermenstadt strahlt eine Ruhe aus, die seinesgleichen sucht. Prunkvolle Häuser mit royalem Charme, extrem gepflegte Gärten und Parks bei denen ein zu langer Grasbuschen einer Revolution gleichkäme.
Ich kann nachvollziehen, warum sich die meisten Pensionisten hier niederlassen. Im Palais de Sources schlürfen sie Quellwasser. Alle 20 Meter steht ein weißer Tisch mit verschnörkselten, weiß gestrichenen Metallstühlen an dem vier feine, betagte Herrschaften des Kartenspiels fröhnen. Man meint, die Zeit ist stehengeblieben. In den Geschäften der Einkaufsstraße reiht sich ein Café und Süßwarengeschäft an das andere. Die Franzosen, sonst sehr schlank, haben hier scheinbar alle ein paar Kilo mehr um die Hüften. Die sich beim Joggen entlang des Allier aber in stilvollem Ambiente abtrainieren lassen.
Letzter Halt: Mulhouse (oder deutsch: Mülhausen). Schon wieder ein nettes Stadtzentrum. Gut essen, bei feinem Wein im Le O2. Annemarie bekommt rote Bäckchen. Sie will Karamell-Eis und bekommt heiße Schokolade. Auch gut. Gut genährt und ausgeschlafen geht es zurück nach Dafins, wo wir uns bei einer Wanderung zum Alpwegkopfhaus die Beine vertreten, ehe es mit dem Railjet heimwärts geht. Tante Irmgard lässt mich beim Schnapsen alt aussehen. Immerhin häng ich ihr dafür noch ein Schneiderbummerl an.
Verdammt schön war’s. Tante Irmgard kann jetzt auch Jassen und ich hab mein Mini-Französisch ein bisserl aufgefrischt. Ungarn mag uns bei der EM drei Punkte gestohlen haben. Unsere Erinnerungen an einen traumhaften Roadtrip kann uns keiner nehmen.
Die Stationen unseres 10-Tagestrips (Wien-Bordeaux-Wien):
Wien (km 0)
Dafins (km 650)
Ponte Tresa (km 892)
Nizza (km 1342)
Avignon (km 1604)
Carcassonne (km 1843)
Bordeaux (km 2179)
Vichy (km 2651)
Mülhausen (km 3092)
Dafins (km 3350)
Wien (km 4000)
Unsere Route ab Dafins auf der Karte:
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Pro Person insgesamt 640 Euro (exklusive Verpflegung)
EM-Ticket/Kategorie 1: 150 Euro
Unterkünfte für acht Tage: 260 Euro pro Person
Benzin: 70 Euro pro Person
Autobahn-Maut: 70 Euro pro Person
Railjet Wien-Feldkirch & retour (mit Vorteilscard): 90 Euro
Eine absolute Traumreise, vom ersten bis zum letzten Kilometer. Wir können jedem empfehlen sich das Auto zu schnappen und spontan die Cote d’Azur abzufahren. Aber auch Vichy oder Bordeaux lohnen einen Abstecher. Avignon hat uns besonders beeindruckt. Gerne hätten wir mehr Tage an diesen Orten verbracht. Die Autobahnmaut in Frankreich ist sehr teuer, die günstigen und dennoch attraktiven Quartiere machen das aber mehr als wett. Vive la France – und am Weg am besten den prächtigen Luganersee mitnehmen.
Fotos: heldenderfreizeit.com
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