In Red Dead Redemption 2, dem Prequel des Meisterwerks von 2010, definieren die GTA-Macher das Open-World Genre neu. Atemberaubende Grafik und schillernde Charaktere inklusive. Unser Review.
von Christoph Geretschlaeger
Wir schreiben das Jahr 1899. Amerika ist im Aufbruch, der Wilde Westen nicht mehr ganz so wild. Arthur Morgan ist auf der Flucht. Ein Überfall ist schief gegangen. Die berüchtigte Van-der-Linde-Gang hat Kind und Kegel zusammengepackt und flüchtet in den tief verschneiten Norden. Unser Alter Ego, Arthur Morgan, Mann der Tat und der Räson, hält den Karavan in der Spur. Im dichten Schneetreiben finden wir Unterschlupf in einem verlassenen Dorf.
Die weiße Pracht erstrahlt dank der brillanten Grafik-Engine so schön wie nie. Besonders dank der Cinematic Camera, die aus Reitpassagen mit unterschiedlichen Kamerawinkeln und Einstellungen, filmreife Zwischensequenzen macht. Überhaupt erinnert die gesamte Anfangssequenz stark an Hateful Eight, den letzten Tarantino-Streifen. Hinterlassene Spuren schneien langsam wieder zu, Mäntel und Hüte werden weiß, der Detailgrad ist enorm.Und ganz im Stile von Tarantino färben wir den Schnee rot.
Warum nicht nur der erste Eindruck bei diesem Game-Meisterwerk stimmt, das bereits in den ersten drei Tagen 725 Millionen Dollar einspielte (nur GTA 5 war noch erfolgreicher), erfahrt ihr in unserem großen Test. Übrigens: Diese neuen Game-Kracher erwarten euch im November.
Schusswechsel spielen sich wie im Vorgänger, wir sitzen in Deckung, lassen Auto-Aim zur Brust zielen und schlenzen den rechten Stick nach oben für den Kopfschuss. Dead-Eye gibt es auch wieder. Die Zeit wird verlangsamt und wir können Schüsse ganz präzise verteilen. Liegt auch die oft zahlreiche Verstärkung mit dem Gesicht im Schnee, können wir uns etwas umschauen. Leichenplündern wird von Passanten üblicherweise nicht goutiert, diesmal kommt uns aber keiner in die Quere als wir Gürtelschnalle und ein paar Dollar erbeuten.
Doch zurück zu unserem Karavan, der nach Querung des Hochgebirges, in der satt-grünen Landschaft unweit vom kleinen Dörfchen Valentine, sein Lager aufgeschlagen hat. Anführer ist der charismatische Dutch Van der Linde. Wir, also besser Arthur Morgan, sind seine rechte Hand. Hosea so etwas wie die graue Eminenz im Lager. Dazu kommen noch ein gewisser John Marston (Spielern des ersten Teils sicher noch als Protagonist in Erinnerung) sowie der Rüpel Bill Williamson und Javier Escuela, die beide im zeitlich danach angesiedelten Red Dead Redemption Ziel von Marstons Rachefeldzug waren.
Sonst gehören zur Gang noch der Tracker Charles, der verrückte Micah, die resolute Karen, der Kredithai Leopold und einige andere schillernde Charaktere. Kurz umrissen klingt das nach den üblichen Klischees, doch lernt man die Meute im Verlauf des Spiels immer besser kennen und realisiert, dass die Gussformen vielleicht nicht so genau passen.
Auf der Suche nach dem Paradies, das bekanntlich auf dem Rücken der Pferde liegt, lotsen wir Arthur nach Valentine, zu den Stallungen. Mein Auge fällt auf Beauty, die braune Stute, die gerade noch leistbar ist. Was der Geldbeutel allerdings nicht mehr hergibt sind die möglichen Accessoires. Umfangreicher als die Tuning-Optionen bei einem Rennspiel, können wir aus dutzenden Satteln, Decken und Steigbügeln wählen, die in den verschiedensten Farben und Materialien erhältlich sind.
Der erste Ausflug mit Beauty endet leider tödlich. Aber nicht für sie. Entwickler Rockstar hat das Physik-Modell verschärft und im forschen Galopp über (so der Plan) einen Felsen blieb Beauty davor stehen, ihr Reiter flog hochkant darüber und fand einen frühen Tod. Wer etwas schneller unterwegs ist, muss in der Zivilisation sowohl auf Fußgänger als auch Masten achten, am Land sind Bäume aller Art und Felsen brandgefährlich.
Die Hauptstory braucht lange um in Gang zu kommen. Anfangs reihen sich, meist ernste, Episoden aneinander, ohne sichtliche Kohärenz oder maßgebliche Entwicklung der Charaktere. Dafür bekommt man hohe Erzählkunst serviert, die sich vor keinem Western verstecken muss. Filmreife Inszenierungen inklusive mitreißender Musik. Nach ungefähr der Hälfte des Spiels zieht es aber mächtig an und die Story wird immer intensiver, immer brutaler.
Storybedingt zieht die Gang alle paar Tage weiter. Meistens weil ein Raubüberfall schief gelaufen ist oder das Camp nicht mehr sicher ist. Ein wichtiger Aspekt für das Wohlbefinden der Gang ist ein ausgebauter Unterschlupf, bessere medizinische und munitionäre Versorgung – sowie bessere Zelte. Im Verlauf des Spiels schaltet man durch diese Upgrades auch das (recht eingeschränkte) Fast Travel frei. Missionen erhält man von seiner Crew, die einen auch immer begleiten. Durch die daraus entstehenden Dialoge lernt man seine Kollegen besser kennen. Arthur wirkt in diesen Szenen wie ein leicht genervter Onkel, der trotzdem mit den Kindern spielt, mit oft witzigen Folgen.
Star der Show ist zweifellos die grandiose, offene Welt von Red Dead Redemption 2. Lebendig bis in den kleinsten Winkel mit geradezu überwältigend vielen interagierenden Systemen. Ein Beispiel aus der Tierwelt: Tierfelle bringen am Anfang viel Profit ein, aber jedes Bison, jedes Reh, hat ein Rating (mit dem Feldstecher einsehbar), was die Qualität des Pelzes bestimmt. Abschüsse mit Pfeil und Bogen zerstören das Fell dazu am Wenigsten. Dazu gibt es legendäre Viecher, aus deren Fell spezielle Ausrüstung gemacht werden kann.
Ein Outlaw braucht natürlich auch Geld, daher rauben wir Züge, Banken und Postkutschen nach Belieben aus. Ab und zu findet ein Camper auch ein lukratives Häuschen, dass es auszurauben gilt. Wichtigstes Utensil ist das hochgezogene Halstuch, damit können wir länger unbekannt bleiben. Dorfbewohner würden sich aber sofort für ein Halstuchverbot einsetzen, denn wer vermummt mit ihnen reden will, bekommt sofort eine Abfuhr.
Der Name tut Nebenmissionen unrecht. Jede Einzelne ist liebevoll vertont und so viel mehr als „bring mir 20 Kräuter“, oder „töte 5 Zivilisten“. Da braucht ein Erfinder für sein nächstes Projekt einige Liter Moonshine, die wir von einer Kutsche klauen, oder ein Fotograf will, dass wir Wölfe aufgeschrecken. Überall verstecken sich kleine Geschichten: sei es eine Frau, die unter ihrem Pferd eingeklemmt ist, oder zwei Sträflinge auf der Flucht, die ihre Kopfgeld-Poster zerstört wissen wollen.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Youtube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Mehr Informationen… selbst, wenn man nicht beschossen wird. Beim Interface fallen sofort die vielen Kreise auf. Arthur wird schnell einmal hungrig oder müde. Für einen gesunden Körper braucht es viel Dosenfutter, Kaffee und jedes Kind weiß, dass Rauchen gesund ist, zumindest für die Zielgenauigkeit. Jeder Sprint kostet Energie und mit der falschen Ausrüstung (im Schnee ohne Jacke herumzulaufen, ist nicht zu empfehlen) sinkt Arthurs Überlebensdauer. Auch Reittieren geht der Saft aus und mit der Zeit sammelt sich im Fell der Dreck. Nach einer Fluß-Durchquerung sind aber sowohl Reiter als auch Pferd wieder sauber, mit der Pferdebürste kann nachgeholfen werden. Man gewöhnt sich aber an alle Survival-Elemente und nach und nach fühlen sie sich weniger sperrig an.
Woran ich mich aber auch nach dutzenden Stunden nicht gewöhnt habe, sind die kontextbasierten Interaktionen. Arthur interagiert mit der Welt über den linken Trigger, wer den hält bekommt für den anvisierten Gesprächspartner Optionen eingeblendet. Man kann Drohungen aussprechen, Dorfbewohner freundlich grüßen oder ausrauben. Oder man zieht versehentlich seine Waffe, das Gegenüber zuckt aus und unser Kopf ist plötzlich 30 Dollar wert. Aus unerfindlichen Gründen sind aber Waffe aufheben, Gegenstand aufheben und Hut aufsetzten drei verschiedene Tasten. Verkettungen unglücklicher Umstände führen gerade in besiedelten Regionen schnell zu ungewollten Feuergefechten mit dem Gesetz.
Red Dead Redemption 2 ein überwältigendes Spiel. Nicht nur die Grafik, sondern auch der Umfang sprengen jeden Rahmen. Von der Büffelherde zur feinen Gesellschaft schafft es Red Dead das Ende des Wilden Westens wundervoll einzufangen. Eingebettet in eine Geschichte zwischen Rache und dem bloßen Überleben über eine immer kleiner werdende Gang, die einem immer mehr ans Herz wächst. Die abwechslungsreich und großartig geschriebenen Charaktere sind das Salz in der Suppe. Jede Unterhaltung, jede Interaktion gewährt Einblick in neue Facetten der Van-der-Linde-Gang.
Die Survival-Elemente sind für meinen Geschmack jedoch völlig überflüssig. Die Behäbigkeit der Steuerung und die Langsamkeit gewisser Animationen (Waffenwechsel am Pferd oder Looten einer Leiche) frustrieren mitunter. Und dazu das unausgegorene Fast-Travel-System, das einen nur vom Camp wegbringt, oder von Zugstation zu Zugstation. Diese Kritikpunkte wirken aber unbedeutend im Vergleich zu der unglaublichen Freiheit, die mir das Spiel bietet und Detailreichtum, der so weit geht, dass ich im Wald von einem Ast aus dem Sattel geworfen werden kann.
Der Grafiker und Art Direktor (Helden der Freizeit, Styria Verlag) aus Wien ist ein absoluter Game- und Film-Kenner. Das zeigt das in seinen Tests und Bestenlisten.