Wagen wir diesen Monat einmal einen Blick über den österreichischen Tellerrand hinaus. Die Reise führt uns in den etwa 2000 Kilometer entfernten Osten der Ukraine. “Internat” von Star-Autor Serhij Zhadan ist ein Werk, für das sich die literarische Tour mehr als lohnt.
Eine Rezension von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jedes Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
17. Dezember 2020: Serhij Zhadans Roman Internat ist eines jener Bücher, die nicht nur eine kraftvolle Momentaufnahme einer Situation darstellen, sondern daraus Allgemeingültigkeit schöpfen können. Der Ukainischlehrer Pascha lebt direkt an der Frontlinie in der Ost-Ukraine und versucht seinen Alltag zu bestreiten, möglichst ohne sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Seine eiserne Neutralität wird aber auf die Probe gestellt, als er in besetztes Gebiet reisen muss, um seinen Neffen aus dem Internat heim zu holen.
Der Roman ist eine Odyssee durch ein Kriegsgebiet, wo auch für Zivilisten jeder Meter hart erkämpft ist. Mit dem Taxi, mit dem Bus und zu Fuß dauert es Tage, sich auch nur wenige Kilometer zu bewegen. So geht Paschas Reise von Insel zu Insel, stets mit dem Gefühl, nicht Herr über das eigene Schicksal zu sein. Die Tatsache, dass Pascha immer versucht, seine Angst, seinen Zorn und auch seine Liebe zu unterdrücken ist ein Schutzmechanismus, den alle Charaktere im Buch verwenden. Der Hilflosigkeit gegenüber den Kräften der Welt kann man nur mit Abstumpfung begegnen. So beschreibt Pascha die Umstände: “Kein Mitleid, mit niemandem”, obwohl er sich nicht daran halten kann. Der Krieg kennt kein Mitleid, aber die Menschen können nicht anders.
Die Handlung von Internat ist eigentlich sehr simpel. Pascha reist zum Internat, holt den Jungen und macht sich auf den Rückweg. Der wahre Inhalt besteht aus den fast geschlossenen Episoden, die Pascha gemeinsam mit, um Leib und Leben kämpfenden, Zivilisten durchsteht. Wie das Ausharren in einem überfüllten Bahnhofsgebäude während draußen Bomben fallen, das Schleichen durch Seitenstraßen im Dunkeln während hinter jedem Fenster Gefahr lauert oder die Organisation einer Suppenausgabe. Dabei fällt auf, dass sich die Zivilisten mit keiner Konfliktpartei richtig sicher fühlen können. Jeder Bewaffnete ist eine potenzielle Gefahr. Daher sieht Pascha sich in seiner Neutralität auch bestätigt. Bis ihm klar wird, dass er von anderen einer Seite zugerechnet wird (wegen seiner Sprache und seinem Wohnort), egal ob er will oder nicht.
Blumige Sprache wäre dem Geschehen nicht angemessen. Der Leser ist den furchtbaren Geschehnissen so nah, dass Zhadan die Dinge mit einfachen und treffsicheren Worten auf den Punkt bringen muss, um keine Abstrahierung zu erlauben. Wenn Pascha zwischen Flüchtigen hockt und draußen geschossen wird, dann sitzt man neben ihm und wünscht sich nur, dass es endlich aufhört. Eine Ausnahme gibt es nur in den wenigen ruhigen Momenten, in denen Pascha Luft holen und sich über seine Situation Gedanken machen kann und in den Rückblenden, wo Zhadan starke wiederkehrende Metaphern findet und sich auch mal den ein oder anderen kunstvolleren Satz erlaubt.
Die preisgekrönte Übersetzung aus dem Ukrainischen trifft den Ton und die Stimmung des Originals perfekt. Dabei führt dies hin und wieder zu umständlichen oder repetitiven Sätzen, die aber keinen schlechten Beigeschmack hinterlassen, sondern ein gewolltes Gefühl des Unbehagens erzeugen.
Internat ist ein Kriegsroman, in dem die Perspektive der Zivilisten und deren Leiden im Vordergrund steht. In deren Erleben ist kein Platz für politische Agitation. Genau das macht das Buch zeitlos und gibt ihm Bedeutung über den spezifischen Rahmen hinaus, ohne ihn zu entwerten. Der enge Fokus auf Paschas Blickwinkel ist es, der den Roman seine volle Wirkung entfalten lässt. Ein Buch, das man gelesen haben muss.
“Internat” (Suhrkamp) von Serhij Zhadan ist in jeder gut sortierten Buchhandlung und im Online-Handel erhältlich.
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Alle Fotos (c) Suhrkamp, heldenderfreizeit.com, Amrei Marie
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.