Stadtführungen durch Wien mit sozialem Auftrag. Tabu-Themen, erklärt von ehemals Obdachlosen und Suchtkranken. Kein Platz für Sozialvoyeurismus, Fokus auf Perspektivenwechsel. Das bietet Shades Tours. Gründerin Perrine Schober ist unsere Heldin des Monats. Im Interview erklärt sie ihr Unternehmen der anderen Art und was es für Bildung und (Re)intagration leisten kann.
von Verena Fink
In unserer Rubrik stellen wir euch unter anderem Menschen vor, die mit ihrem sozialen Engagement hervorstechen. Diesmal treffe mich mit Perrine Schober in einem Cafe in der Nähe ihres Büros im 15. Bezirk. „Es geht um zweistündige Stadtführungen“, erklärt sie mir. Behandelt werden dabei die Themen Sucht & Drogen sowie Obdachlosigkeit. Geführt wird man von ehemals Betroffenen. Das Ziel: Vorurteile abbauen und Augen öffnen.
Perrine berichtet von Momenten, die bekannt vorkommen, vom Stich im Herzen, wenn man nicht weiß, wie man einem obdachlosen Menschen am besten helfen kann. Warum Socken wichtige Spenden sind und welche Rolle die bekannte Sendung 2 Minuten 2 Millionen bei ihrem Unternehmen spielt, erklärt die Unternehmerin in einem ausführlichen Helden-Interview. Über Themen, die uns alle angehen – unsere Heldin des Monats.
Perrine Schober: Wir beschäftigen Menschen, die es am Arbeitsmarkt extrem schwer haben und geben ihnen eine Möglichkeit, dort Fuß zu fassen. Auf der anderen Seite bieten wir sozialpolitische Bildung. Die Teilnehmer, die sich für die Touren anmelden, zahlen ja nicht nur um Gutmenschen zu sein, sondern erwarten Informationen und Geschichten, die ihnen ermöglichen, einen Perspektivwechsel einzugehen.
Wir haben einen Verteilungsschlüssel von ca. 15 Personen pro Guide, das sind intime Gruppen, die den Austausch ermöglichen. Bei größeren Gruppen stellen wir mehrere Guides zur Verfügung. Es ist nicht selbstverständlich, mit dieser Art von Mitarbeitern zu arbeiten, weil die auch sehr viele eigene Probleme haben. Das heißt, bei größeren Gruppen gibt es einen zweiten Back-up, der im Fall übernimmt. Es bleibt aber normalerweise bei kleinen Gruppen pro Guide.
Wir haben bei der Entwicklung der Touren darauf geachtet, wie der Mensch lernt. Es ist eine, Bildungstour, das heißt wir bringen Leuten Inhalte bei. Der Mensch lernt entweder auf der rationalen– oder auf der emotionalen Ebene. Wir versuchen, beide Arten der Gehirnhälften zu stimulieren, sodass man ganzheitlich lernen kann. Es gibt also Fakten zu lernen, es gibt Aha-Momente und viele empathische Momente. Der Guide hat ein Skript, einen roten Faden, den er von mir bekommt und fügt dann seinen eigenen Input hinzu. Er kann sich aussuchen, wieviel er von sich selbst preisgibt oder ob er Geschichten von jemanden anderen erzählt.
Im ersten Bezirk sind die Touren zum Thema Armut und Obdachlosigkeit, die Tour zum Thema Sucht und Drogen ist im sechsten Bezirk. Es sind alles sehr symbolische Orte, die aufgesucht werden, weil wir ja keinen Sozialvoyeurismus betreiben und niemanden stören oder zeigen wollen. Dafür braucht man auch keine Tour: „Hey, so sieht ein Obdachloser aus, guckts mal“. Das ist absolut unnötig. Aber zum Beispiel eine Parkbank wird zum Symbol. Darf man draußen schlafen? Wenn ja, wie? Wenn nein, warum nicht? Wer sind die Menschen, die draußen schlafen? Dürfen die nicht in unterschiedliche Einrichtungen? Wenn sie dürfen, warum gehen sie nicht? Das erklären wir. Oder ein Kino wird zum Symbol: was bedeutet Freizeit für einen Menschen? Ab wann wird Freizeit gelebt bzw. wie schaut die Freizeit eines obdachlosen Menschen aus? Eine Apotheke kann zum Symbol werden. Ein Paradies auf Erden für Medikamentensüchtige oder substituierte Personen.
Ich mach das allein. Früher hatten wir ein größeres Team, das funktionierte sehr gut vor Corona. Seit Corona bin ich allein. Das große Team wird’s jetzt nicht spielen, das möchte ich auch noch nicht. Ich habe jetzt auch nicht den Drang, so groß zu werden wie damals. Wieder kleiner anzufangen ist ganz in Ordnung. Für die Führungen gibt es im Moment sechs Guides, das ist sehr wenig im Vergleich zu normalerweise. Coronabedingt sind Leute abgesprungen und wir konnten nicht rekrutieren. Meine Mitarbeiter wollen Beständigkeit und Sicherheit und das ist ja genau das, was ich eben nicht geben konnte.
Wir arbeiten mit unterschiedlichen Sozialeinrichtungen, mit Psychologen, oder Guides kennen jemanden und sprechen den an. Im Moment rekrutieren nur die Guides eigentlich. Sie sind die härtesten Rekruter. Die sind nicht so großzügig und sagen dann „also ich weiß nicht, ob der wirklich…“ (lacht)
Wir haben ganz tolle Mitarbeiter. Coole Leute, die mit sehr viel Herz arbeiten und denen diese Mission extrem wichtig ist. Die sind dankbar für Shades Tours und wollen alles, was sie falsch gemacht haben, nutzen und vielleicht so zum Richtigen machen und zum Guten wenden. Alarmglocken erklären. Gerade bei Schulen zu sagen, nehmt keine Drogen und das hier sind die Alarmglocken.
Ich habe Tourismusmanagement studiert und bin dann durch mein Studium auf das Gebiet Tourismus als volkwirtschaftliches Element der Armutsverringerung gestoßen. Das fand ich sehr spannend, ich habe auch meine Diplomarbeit diesem Thema gewidmet und war danach im sozialen Bereich strategisch unterwegs. Ich wollte für ein Unternehmen im Tourismus arbeiten, das aber auch sozial ist – ohne zu wissen, dass es schon Sozialunternehmen oder Social Businesses gab. Ich bin ziemlich schnell auf dieses Konzept gestoßen. Darum helfe ich Obdachlosen. Das Konzept gibt es schon in Städten wie Amsterdam, Prag, Barcelona, London oder Berlin.
Das Wichtigste für mich ist eben, dass ich keinen Bezug dazu hatte. Ich hab das so eigenartig gefunden, dass wir das Thema in der Schule nie angegangen sind, Dass ich als erwachsener Mensch durch die Straße geh und jedes Mal, wenn ich eine obdachlose Person sehe, einen Stich im Herzen verspür und ich mich frag, kann ich was machen? Ist es richtig jetzt zu handeln? Ist es ein Einmischen? Dieses Ohnmachtsgefühl. Und das war eigentlich das Thema, ich fand das nicht normal.
Warum haben wir dieses Gefühl? Weil uns das noch nie jemand erklärt hat. Dieses Gefühl habe ich bei sehr vielen Menschen gesehen und dann wusste ich, mir wird’s genau darum gehen bei unseren Touren. Wir wollen diesen Informationsgap schließen, indem wir den Menschen mehr Information zu dem Thema geben, sodass sie vielleicht, wenn sie eine obdachlose Person sehen, sich einmal mehr als einmal weniger damit auseinandersetzen und sich fragen ok, wo kann ich helfen? Da war zum Beispiel auch eine Situation Anfang Dezember zu Wintereinbruch auf der Mariahilfer Straße: eine hochschwangere Frau sagt mir, dass sei obdachlos ist und nicht weiß, wo sie heute Nacht schlafen kann. Welche Möglichkeiten habe ich? Ich hab die Möglichkeit, jetzt Geld zu geben, ich hab die Möglichkeit, ein Zimmer zu organisieren. Ich bin dann nochmal zurück und hab gesagt: Dort ist das und das. Man kann auch selbst am Handy nachschauen. Wo soll sie hin? Das ist glaub ich dieses Empowerment. Wenn das nach einer Tour passiert, wäre das toll. Jeder einmal mehr.
Die Touren wirken sich unterschiedlich aus. Entweder die Leute gehen raus und haben einfach eben neue Informationen bzw. einen Perspektivwechsel. Es gibt auch welche, die dann selbst aktiv werden. Zum Beispiel hatten wir eine Schülerin, die bei der Tour gelernt hatte, dass Socken in der Obdachlosigkeit Mangelware sind, weil die Leute eher nur normales Gewand spenden. Daraufhin hat sie eine Sockenspendenaktion an ihrer Schule gestartet. Ich hab dann gesagt: Weißt du was? Eigentlich können das alle Schulen machen, die je bei uns mitgemacht haben. So kam es zu einer ganz großen Sockenaktion, wo 15.000 Sockenpaare quer durch Wien verteilt wurden, in unterschiedliche Einrichtungen. Solche Sachen gibt’s immer wieder, auch im Kleineren. Ich glaub, dass Besondere ist, dass man merkt, man muss nicht sonderlich gescheid sein, muss nicht sonderlich reich sein, jeder hat einen Wirkungsbereich. Das fand ich so besonders bei dieser Schüleraktion. Du brauchst einfach nur Ideen.
Ja. Also wir waren schon ein größeres Team früher, das heißt ja, dass muss ja auch bezahlt werden. Es ist aber auch kein Verein, es ist wirklich ein ganz normales Unternehmen und zahlt auch ganz normal Steuern und Gehälter.
Ja ich weiß. Das ist schade. Ich glaube, es ist eine Herausforderung, die sehr viele Sozialunternehmer haben. Sozialunternehmen würden sich niemals trauen, minderwertige Qualität anzubieten. Weil sie selber diesen Druck verspüren mit der Erwartungshaltung: nur weils sozial ist, dass es eh nicht so gut sein kann. Die haben dann zusätzlich diesen Ansporn, diese geringe Erwartung voll zu übertreffen. Es ist wichtig, dass man sagt, es hat einen Preis, und diesem Preis muss ich auch gerecht werden. Damit das auch alles funktionieren kann, muss ich faire Gehälter zahlen können, meine Finanzen zahlen und Steuern zahlen.
(Hier gehts zu Perrines Pitch bei 2 Minuten 2 Millionen) Ich habe dort ein Nachrangdarlehen bekommen und das habe ich damals als Notnagel auf die Seite geschoben. Sollte ich irgendwann mal Schwierigkeiten haben, dann ist das mein Kapital, von dem ich Schwierigkeiten abfedern kann. Ich finds auch interessant, wenn mich Freunde oder Bekannte sehen: Wie geht es deinem Projekt? Ich denke mir dann immer, so viel wie ich Blut und Arbeit investiert habe, ist das schon lange kein Projekt mehr. Es ist ein ganz normales Unternehmen. Jemand der „normale“ Stadtführungen macht, das würde niemals als Projekt gelten, oder? Ich sag dann immer: Meinem Unternehmen geht’s gut. Dankeschön.
Ja, also wir schauen, dass wir wirklich ganz viel darüber kommunizieren. Ich glaube, man sieht auch, wie wir auftreten, die Art wie wir auftreten. Wir verwenden bunte Farben, es sind keine Grauschattierungen. Auch unsere Bilder, also wenn du dir ein bisschen die Website und die Sprache anschaust, kannst du sehen, dass das nicht ins Sozialvoyeuristische driftet. Da ist nirgendswo auf unserer Website ein Bild von jemanden, der bettelt oder graue, triste Grafiken. Die Leute, die von unseren Touren enttäuscht sind, dachten, wir gehen zu den Plätzen der Obdachlosen. Deswegen ist es auch immer wichtig, sich unsere Reviews anzuschauen. Da steht genau das drinnen, was erlebt wurde. Die Guides sprechen das Thema am Anfang der Tour an, weil ich es ganz wichtig finde, dass keiner enttäuscht ist, weil er sich etwas anderes erwartet. Es ist ein sehr sehr schmaler Grad bei dem Thema. Ab dem Moment, wo du sozialvoyeuristisch bist, hast du auch kaum Kunden mehr. Wer Obdachlose sehen will, der braucht nur den Donaukanal runterzuspazieren. Da brauchts keine Führung.
Touren buchen. Wenn jemand sagt, ich finde die Touren so super, jetzt kaufe ich mir 10 Gutscheine und kann sie dann zu jedem Anlass verschenken. So werden dann die Gehälter bezahlt, so kommt es zu mehr Arbeitsintegration. Umso mehr Nachfrage, umso mehr Leute brauche ich, umso mehr Leuten kann ich diese Reintegration am Arbeitsmarkt geben. Und das Beste ist, das sag ich jetzt mit einem lachenden und einem tränenden Auge: Meine Mitarbeiter verlassen mich, wenn es ihnen am besten geht. Shades Tours ist keine für-immer-Tätigkeit, sondern ein Sprungbrett, wo ich Selbstwert aufbaue und wieder an mein Leben glauben kann. Es gibt sehr viele meiner Mitarbeiter, denen suggeriert oder direkt gesagt wird, dein Leben ist jetzt vorbei. Mit 45, 50 Jahren. Entweder sie sagen es sich selbst oder sie bekommen das gesagt. Mit deinem Vorstrafenregister ist das Leben vorbei. Und das ist einfach viel zu früh. Das ist extrem traurig.
Shades Tours Touren finden regelmäßig in Wien statt, gebucht werden können sie online. Das Unternehmen gibt es seit 2015 und zählt mittlerweile zu den Top-Stadtführungen in Wien. Die Tickets für eine zweistündige Tour kosten 18 Euro pro Person, auf Anfrage kann man für private Gruppen eine Tour organisieren.
In unserer Serie Held:in des Monats stellen wir euch jeden Monat Menschen vor, die durch ihr soziales Engagement, ihre Kreativität oder ihre Leidenschaft Besonderes leisten:
Schmuck aus Wiener Street Art: Birdlys Upcycling-Kunst
Ice Freestyler Allstars: “Wir wollen morgen besser sein als heute.”
Andi Goldberger: “Jeder schreibt seine eigene Heldengeschichte!”
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