Patrick Süskinds Novelle verknüpft die Lebensgeschichten zweier Sonderlinge. Der eine rastlos, gehetzt. Der andere gewitzt und unbekümmert.
von Kla Linea
Sie hat mich als Leser gepackt und lange nicht losgelassen. Die Geschichte von Herrn Sommer ist eine Aneinanderfügung einzelner Kindheitserinnerungen des Ich-Erzählers, die mit der Person des Herrn Sommers verwoben sind. Die Mühelosigkeit, mit der das Erlebte geschildert wird, lässt die Figur des Herrn Sommers wie eine Randnotiz erscheinen. Und doch ist sie deutlich und eindrücklich vorhanden.
Immer auf Wanderschaft
Die Novelle spielt in den Nachkriegsjahren in einem Dorf namens Obernsee. Obwohl man über Herrn Sommer so gut wie nichts weiß, ist er bekannt wie ein bunter Hund. Anhand seiner Erscheinung kennt man ihn in einem Umkreis von sechzig Kilometern rund um den See. Im Winter trägt er einen langen, schwarzen Mantel, Gummistiefel und Bommelmütze, im Sommer einen flachen Strohhut, Leinenhose und -hemd und ein Paar groben Bergstiefel, dazu seinen langer gewellter Nussbaumstecken und einen Rucksack – denn Herr Sommer ist auf Wanderschaft. Jeden Tag, egal ob bei Sonnenschein oder Regen, hastet er durch die Gegend – zwölf, vierzehn, sechzehn Stunden am Tag. Besorgungen und Besuche macht er keine. Er kehrt nirgends ein, hält nicht inne, um ein paar Minuten auszuruhen. Fragen nach seinem Wohlbefinden schüttelt er ab, als wären sie ihm lästig.
„Regelmäßig wie ein Uhrwerk, in winzig kleinen sekundenschnellen Schrittchen liefen die Beine vorwärts, und das ferne Pünktchen rückte – langsam und schnell zugleich wie der große Zeiger einer Uhr – quer über den Horizont.“
Ja so lasst mich doch endlich in Frieden!
Die Gründe für Herrn Sommers eigenwilliges und gehetztes Verhalten werden nur angedeutet. Es wird dem Leser überlassen, sie zu interpretieren: Die Erzählung spielt in der Nachkriegszeit. Herr und Frau Sommer haben keine Kinder. Frau Sommer ist Puppenmacherin. Wie ein gehetztes Tier verhält sich Herr Sommer, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Bevor er seine Jause isst und eilig einen Schluck aus seiner blechernen Feldflasche nimmt, späht er die Umgebung aus, lauscht, vergewissert sich, ob ihm niemand gefolgt ist.
Nur einmal lässt Patrick Süskind Herrn Sommer zu Wort kommen. Während eines Unwetters auf der Landstraße – Hagel, Kälte, Nässe, ohrenbetäubender Lärm – Vater und Sohn (Ich-Erzähler) kommen selbst im Auto kaum voran. Nicht weit von ihnen bahnt sich Herr Sommer seinen Weg durch die Landschaft. Als der Vater Herrn Sommer zum Einsteigen bewegen will, reagiert Herr Sommer mit einer „trotzig-verzweifelten Gebärde“ und hält fest:
„Ja so lasst mich doch endlich in Frieden!“
Mehr sagt er nicht. Mehr braucht es nicht. Die Botschaft ist klar.
Zu einer Zeit, als ich noch auf Bäume kletterte
Im Gegensatz zur Person des Herrn Sommers steht die Darstellung des Ich-Erzählers. Die Kindheitserlebnisse werden mit einer betonten Leichtigkeit geschildert: Die erste Liebe, die gefürchtete Klavierlehrerin, das Fahrradfahren … Der lockere Ton, die amüsanten Begebenheiten entführen den Leser in eine unbekümmerte Welt, die die Geschichte von Herrn Sommer scheinbar in den Hintergrund rücken lässt. Das Ende der Novelle wird hier nicht verraten. Aber trotzdem sei erwähnt, dass Herrn Sommers Forderung nach Frieden respektiert wird, auch wenn er sich seinerseits in unserer Gedanken eingeschlichen und dort eingenistet hat.
Titel: Die Geschichte von Herrn Sommer
Autor: Patrick Süskind
Verlag: Diogenes, 1991/Neuauflage: 2016
Seiten: 128
ca. 10 Euro bei Diogenes
An Titeln wie „Das Parfüm“, „Die Taube“ und „Der Kontrabass“ kommt man ohnehin nicht vorbei.
Sie wird mit einer unglaublichen Leichtigkeit erzählt und trotzdem verhakt sich die Geschichte von Herrn Sommer und lässt einen lange Zeit nicht mehr los.
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