Wenn Sherlock-Regisseure Moffat und Gatiss sich Draculas Geschichte annehmen, kann das nur gut werden. Oder doch nicht? Tatsächlich ist ihre Neuinterpretation des filmisch recht ausgeschlachteten Werks von Bram Stoker ein unterhaltsames und blutiges Spektakel. Warum die neue BBC- und Netflix-Serie trotzdem nicht das Zeug hat, sich zu den großen Dracula-Klassikern zu gesellen.
von Sophie Neu
6. Jänner 2020: Mit der fantastischen Serie Sherlock haben Steven Moffat und Mark Gatiss schon einmal ein literarisches Meisterwerk entstaubt und für heutige Zuschauer appetitlich aufbereitet. Da scheint es nicht weit hergeholt, dass sie ihnen den Klassiker der Horrorliteratur schlechthin auch schmackhaft machen könnten. Doch die BBC und Netflix-Serie Dracula kränkelt an vielen Ecken. Von fragwürdigen Masken, die eher für Gelächter als Grauen sorgen, bis hin zu einer Handlung, die spätestens in der dritten Folge jeglichen Vorwand über Bord wirft, sich noch am Originalmaterial zu orientieren. Trotzdem bleibt der neue Dracula dank humoristischen Einlagen und fantastischem Cast sehenswert.
Welches Fazit die Helden der Freizeit aus der Netflix-Umsetzung von Dracula ziehen, lest ihr in unserem Review. Eine Vorschau zu den Serien-Highlights dieses Jahr gibt es übrigens in unserem ultimativen Überblick der Netflix-Produktionen 2020. Ähnlich dämonisch wie in Dracula geht es in Netflix’ Interpretation von Sabrina vor. Erfahrt in unserer Kritik von The Chilling Adventures of Sabrina Teil 3, wie die Serie uns gefällt.
Als der junge britische Anwalt Jonathan Harker (John Heffernan) Ende des 19. Jahrhunderts tief in die transsilvanischen Wälder aufbricht, um dem alten Grafen Dracula (Claes Bang) bei den Vorbereitungen zu seinem baldigen Umzug nach Großbritannien zu helfen, trifft er zunächst auf einen kränkelnden, gebrechlichen Greis. Sehr bald muss Harker feststellen, dass er sich im Grafen getäuscht hat. Denn der wird mysteriöserweise immer jünger, während er selbst immer schwächer wird.
Harker erwacht schließlich völlig verändert in einem Kloster in Budapest. Dort besinnt er sich mit Hilfe der Nonne Agatha (Dolly Wells), der Ereignisse, die sich in Draculas Schloss abgespielt haben. Er muss sich eingestehen, dass der Graf ein Vampir ist, der ihn zunehmend in seinen Bann gezogen und sich an seinem Blut gestärkt hat.
Schwester Agatha interessiert sich aber weniger für Jonathan Harkers persönliches Schicksal. Vielmehr will sie dem Grauen des Grafen ein Ende setzen. Es beginnt ein Duell zwischen den Mächten des Guten und Bösen, das sich bis in die Gegenwart fortsetzt.
So spannend die Handlung theoretisch klingt, so sehr hapert es bei Moffat und Gatiss‘ neuem Serienprojekt an der Umsetzung. Das liegt vor allem daran, dass sich ihr Dracula schon in der ersten Folge nicht so recht entscheiden kann, was er sein will. Er schwankt zwischen dem großartig düsteren Humor des Grafen und schrecklich kitschigen und übertriebenen philosophischen Plattitüden, die man so schon hundert Mal im Fernsehen durchlitten hat.
Gleichzeitig versucht sich die Serie an grausigen Horrordarstellungen, wie man sie aus äußerst grafischen Horrorwerken kennt. Das wäre durchaus akzeptabel, ist der Graf doch durch und durch blutrünstig. Wären da nicht die ans Komische grenzenden Horrorgestalten. In der ersten Folge etwa soll der Zuschauer sich vor einem Chucky-ähnlichen Baby fürchten, dass mit seiner absurden Fratze mehr für Gelächter als Grauen sorgt. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade dadurch, entfaltet sich ein gewisses Unterhaltungspotential.
Schlussendlich liegt das am großartigen Claes Bang und der ebenso talentierten Dolly Wells, die mit ihren Darstellungen als Graf Dracula und Schwester Agatha begeistern. Allerdings ist Bangs Dracula meilenweit weg von denen der Vampir-Legenden Christopher Lee (sein Dracula von 1958 gehört für uns zu den 10 besten Horrorklassiker aller Zeiten) oder Bela Lugosi – zu denen es übrigens so einige Verweise gibt. Aber auch wenn Bangs Interpretation zunächst gewöhnungsbedürftig ist, gefällt sie doch sehr.
Beim für BBC und Netflix produzierten Dracula ist wenig vom noblen Aristokraten geblieben. Hier stehen Sadismus und Skrupellosigkeit im Vordergrund. Der Vampir geht voll in seinem Blutrausch auf, Menschen sind ihm dabei immer nur Mittel zum Zweck. Eine wahre Zuneigung zu Individuen entfaltet sich bei ihm nie, maximal eine leichte Faszination mit ihren charakterlichen Eigenheiten.
Vor allem aber hat er einen ausgeprägten und düsteren Sinn für Humor und Ironie, sodass man trotz seiner gewissenlosen Blutorgien eine Spur Sympathie für den Vampir entwickelt. Nicht weniger Spaß macht es Dolly Wells als Schwester Agatha auf ihrem Kreuzzug gegen den Blutsauger zu begleiten. Mit Wortwitz und ihrem wissenschaftlich veranlagten Verstand treibt sie Dracula nicht nur verbal mehrmals in die Ecke. Ihrem Katz-und-Maus-Spiel zuzusehen ist äußerst amüsant, nicht zuletzt weil zwischen beiden eine gewisse Spannung knistert.
Doch trotz Blutsaugen und flüchtigen Berührungen hier und da von Draculas Seite stellt sich nie das Gefühl ein, dass da mehr zwischen den beiden sein könnte. Es fehlt einfach die Chemie. Ob das schlussendlich an der Inkonsequenz der Drehbuchautoren oder der Zögerlichkeit der Schauspieler liegt, bleibt offen.
Spannung fehlt dafür da, wo sie bitter nötig gewesen wäre. Der Netflix Dracula spielt immer wieder darauf an, dass der Graf seinem Gast Jonathan Harker durchaus zugetan ist. Und das gar nicht mal subtil. So fragt Agatha den Anwalt gleich zu Beginn, ob er Geschlechtsverkehr mit dem Vampir gehabt hätte. Da könnte man als Zuschauer meinen, dass sich im Laufe der Geschichte mehr zwischen Dracula und Jonathan abspielt.
Auf alle Fälle den Autoren (negativ) zuzurechnen ist die letzte Folge, in der es Dracula plötzlich in unsere Gegenwart verschlägt. Während es durchaus unterhaltsam ist, dem Grafen dabei zuzuschauen, wie er sich an all den neuen Errungenschaften der Menschheit ergötzt, verwundert es doch, dass auch sein moralischer Kompass von heute auf morgen komplett umschwingt. Denn statt, wie zuvor die übliche Blutspur der Verwüstung hinter sich herzuziehen, setzt er plötzlich auf Einvernehmlichkeit beim Zubeißen. Da fragt man sich doch, woher der Sinneswandel kommt. Vielleicht hatte er während seiner unfreiwilligen hundertjährigen Pause zu viel Zeit zum Nachdenken.
Trotz der enttäuschenden, weil aus dem Schema fallenden, letzten Folge, ungewollt komischen Horrormaske und so manchen nervigen Plattitüden ist die neue Version von Bram Stokers Klassiker durchaus sehenswert. Vor allem die verbalen Duelle zwischen Claes Bang und Dolly Wells sorgen für große Unterhaltung.
Dabei muss man sich schnell von der Vorstellung verabschieden, es könnte sich hier noch um den klassischen Dracula handeln. Vom Adligen ist wenig übriggeblieben, dafür aber umso mehr vom Bösen. Und das gefällt teuflisch gut.
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Die Journalistin ist bei Videospiel-Tests und Wien Guides voll in ihrem Element. Seit 2021 verstärkt sie die Redaktion des KURIER.