Nach vielen Monaten haben wir für euch endlich wieder einen Buchtipp aus dem Bereich der Lyrik. Frieda Paris legt mit Nachwasser aber nicht, wie im Genre oft üblich, einen Band voller Einzelgedichte vor, sondern ein einziges 120-seitiges Langgedicht. Damit hat sie 2024 gleichmal beim Österreichischen Buchpreis die Auszeichnung für das beste Debüt abgestaubt.
von Peter Huemer, 21. 1. 2025
Was darf Lyrik? Diese Frage stellt Frieda Paris mehrfach in Nachwasser und beantwortet sie mit: alles! Und genau das erlaubt sich dieses Langgedicht. Keine Verpflichtung an eine bestimmte Form – außer jene, die es sich selbst auferlegt. Und das auch nur dann, wenn es in den Kram passt. Ein interessantes Projekt, das sich entfaltet und entfaltet.
Beim Besprechen von Lyrik erübrigt sich normalerweise der Versuch, den Plot zu beschreiben. Nachwasser jedoch hat durchaus eine gewisse Chronologie der Ereignisse, einen Ablauf von Zeit, der sich entlang seiner eigenen Entstehung erstreckt – ein Gerüst und daran festgemachte narrative Elemente. Als zusätzliche Orientierungshilfe dienen Nummerierungen der Abschnitte und die zahlreichen Beschreibungen von Zetteln auf deren Vorder- oder Rückseiten die Notizen für das Buch entstanden. All diese Elemente geben dem Langgedicht einen dringend benötigten Rhythmus.
Aber worum geht es eigentlich? Eine fast schon blasphemische Frage, aber eine zumindest oberflächlich leicht beantwortbare: Es geht um die Entstehung des Gedichts und die hereinprasselnden Eindrücke und Gedanken, die es schließlich formen. Der Rest steckt dahinter und zwischen den Zeilen fest. Mit einer Kindheitserinnerung setzt das Gedicht ein und springt vom Schreibtisch, von der Gegenwart der Entstehung immer wieder hinaus ins Erleben. Das erste Gedicht, eine Korrespondenz, ein Treffen, eine Idee, eine Fantasie. Sternförmig schießt das Gedicht in viele Richtungen davon, sammelt am Wegesrand Fetzen von Bedeutung und Erkenntnis und kehrt an den Schreibtisch gerade rechtzeitg zurück, um den nächsten Zacken zu erzeugen. Eine Wiederholung des Hin- und Zurückdenkens – die Vorder- und Rückseiten eines Gedankens.
Das titelgebende Nachwasser steht im Zentrum, ohne selbst das Zentrum zu bilden. Es will geschöpft werden und an den Schreibtisch getragen, dort verarbeitet. Das Nachwasser ist der Fundus allen lyrischen Schaffens großer DichterInnen, die diesem Langgedicht vorangegangen sind, und aus diesem Fundus im speziellen die für die Schreibende greifbaren, prägenden. Allen voran ist es der immer wieder eingesehene Nachlass von Friederike Mayröcker, der großen Wortmutter (so im Buch genannt), die mit Frieda Paris in Korrespondez steht und über den Tod (2021) hinaus scheinbar über Funde im Nachlass weiter mit ihr kommuniziert. So wächst der Text im Dialog mit sich selbst und seinen Quellen und mit dem immer aufs Neue überwundenen Zweifel an der eigenen Qualität und Existenzberechtigung. Organisch und wenig konstruiert, dafür viel mehr fließend, führt einen das Gedicht in eine angenehme Irre.
Sprachlich finden die Sätze außerhalb der Regelbundenheit der Prosa eine faszinierende Unstetheit. Sie schwanken und während manche Sätze einfach Sätze sind, streifen andere manchmal mehr und manchmal weniger die Ketten der Grammatik ab und andere tun es nur scheinbar. Der erste Teil eines Satzes verliert sich und sein Ende fließt in einen neuen, ganz anderen über. Worte werden erfunden, wie es die deutsche Sprache so schön zulässt, und so trägt einen ständig das Gefühl, den zuletzt gelesenen Satz verstanden zu haben, ohne dass man beschwören könnte, was genau man da verstanden hat. Häufige kleine Sprünge zurück sind beinahe eine Notwendigkeit.
Nachwasser ist ein Beweis der eigenen These: Lyrik darf alles. Ich möchte aber noch hinzufügen – muss es dann aber auch können. Und dieses Können beweist Frieda Paris. Über diesen Beweis hinaus steckt viel Wertvolles in Nachwasser, das sich in seinen 120 Seiten nur hin und wieder zu sehr in der eigenen Metaebene verirrt.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.