In seinem neuen Buch widmet sich Kult-Kabarettist und Schriftsteller Dirk Stermann dem Jahrhundertleben der 95-jährigen Erika Freeman. Eine faszinierende Geschichte voller Witz, Weisheit und Einfühlsamkeit.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schrifsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
Nachdem Erika Freeman, die als Kind vor den Nazis fliehen musste und später in den USA zur berühmten Psychoanalytikerin wurde, bei Dirk Stermann in der Sendung als Gast auftritt, treffen sich der Fernsehmoderator und die während der Pandemie in Wien hängengebliebene jeden Mittwoch im Hotel Imperial. Im Zuge dieser Treffen erzählt Erika ihre Lebensgeschichte.
Weiterer Lesetipp! Wie es einer ebenfalls großartigen Frau ergehen kann, der nicht die Flucht vor den Nazis gelingt, kannst du in Anna Amilars toller Fact-Fiction Looking for Anna nachlesen – hier unsere Rezension.
Erika Freeman ist ein Mensch der Assoziationen und genauso funktioniert dieses Buch. Zwar erzählt Erika auf geistreiche und unterhaltsame Weise die Geschichte ihres Lebens beginnend mit der Flucht aus Wien, aber die Gespräche mit Stermann sind keine Interviews sondern eben Gespräche zwischen Freunden und so nehmen die Unterhaltungen des öfteren Umwege. Das entspricht ganz Erikas Denkweise, die in einem Satz von furchtbaren Verbrechen und herzzerreißenden Verlusten sprechen kann und in der nächsten Sekunde einen Witz machen.
Alles steht in Verbindung und alles bezieht sich aufeinander. Und über allem steht die Lebensfreude. Dirk stellt Fragen, lenkt manchmal das Gespräch zurück auf gestellte Fragen, aber niemals kommt er Erika in ihrem Erzählfluss in die Quere. Denn was sie zu sagen hat, ist immer interessant und beinhaltet eine Weisheit.
Erika wurde allein von ihrer Mutter nach Amerika geschickt und dort zur Psychoanalytikerin freudscher Schule. Sie, selbst Jüdin, bewegt sich im Kreis jüdischer EmigrantInnen, großer Persönlichkeiten, die den Lauf der Geschichte mit beeinflussten und beinflusste selbst den Lauf der Dinge. Als Analytikerin der Hollywoodstars kennt sie alle, die in den USA Rang und Namen hat und ist dennoch eine geerdete Person. Sie plaudert aus dem Nähkästchen über die Reichen und Mächtigen, zeigt uns, wie menschlich auch die größten Menschen sind. Stermanns Gedanken passen sich dieser Sichtweise und Denkweise an, fließen assoziierend von Szene zu Szene und finden doch immer einen verbindenen Sinn.
Einen Rahmen, um die Gespräche und Erinnerungen von Erika, bildet Stermanns Beschreibung der drum herum liegenden Tage. Ausgewählter Ereignisse direkt vor und nach ihren Treffen im Imperial und der Gedanken, die im Nachhall der Unterhaltungen in ihm aufkamen. Es ist nicht nur Erikas Vergangenheit, die erzählt wird, sondern auch ihre Gegenwart. Ihr Geburtstag. Ihre Auftritte. Ihre komplexen Gefühle dem Land gegenüber, das versuchte sie als Kind zu ermorden und ihr jetzt die Staatsbürgerschaft verleihen möchte. Stermann reflektiert über die Windungen des Schicksals, die uns alle, Erika und Stermann selbst, an diesen Punkt der Geschichte gebracht haben und wie wir damit umgehen.
Erzählerisch ist das Buch zwar chronologisch gehalten, doch die assoziative Form und die langen manchmal mäandernden Dialoge ziehen einen in alle Richtungen. Der Stil bleibt geradlinig, authentisch. Im Dialog und den darum herum gebauten Beschreibungen hält sich Stermann als Erzähler zurück. In den Reflexionsszenen kommt dann aber doch ein gewisser kabarettistischer Witz in manche Situation. Erikas Geschichte lässt Stermann auf so manche Absurdität seiner Welt und der Geschichte stoßen und diese Absurdität verlangt nach humorvoller Auflösung, ohne den Ernst über Bord zu werfen.
“Mir geht`s gut, wenn nicht heute, dann morgen” ist ein Buch, dass sich so flüssig und geistreich liest, wie ich mir ein Gespräch mit Erika Freeman vorstelle. Es fliest von einem ins andere und bleibt dennoch fokussiert. Ohne große Stilübungen oder Spielereien berichtet es von einem außerordenlichen Leben und den geschichtlichen Rahmen, den es füllte. Eine Empfehlung! Heißer-Tipp: Noch bis Sonntag 5. 11. kannst du es bei uns zusammen mit Buch Wien Festivalpässen hier gewinnen.
“Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen” von Dirk Stermann ist im Oktober 2023 bei Rowohlt erschienen.
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Aufmacherfoto (c) heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.