Michael Köhlmeier ist einer von Österreichs erfolgreichsten und bekanntesten Schriftstellern. Wann immer ein neues Werk aus seiner Feder in den Buchhandlungen landet, sind natürlich viele Augen darauf gerichtet, besonders wenn es sich dabei um ein 950 Seiten Monstrum wie seinen neuen Roman Matou handelt.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
19. September 2021: Matou ist ein Kater, und Katzen haben bekanntermaßen sieben Leben. Jetzt, am Ende des siebten Lebens angekommen, wird es Zeit, alles Revue passieren zu lassen. Denn es hat sich ein reicher Schatz an Erfahrungen, Erlebnissen und Erkenntnissen angesammelt, der nun an uns weitergegeben werden muss. Vom ersten Leben während der Französischen Revolution quer durch die Geschichte lässt uns Matou an seinem Dasein teilhaben.
Als weiteren tolle österreichischen Buchtipp empfehlen wir dir hier unsere Rezension von Tonio Schachingers Echtzeitalter.
Alle sieben Leben des Katers Matou hier genau zu beleuchten, würde den Rahmen eines Buchtipps sprengen. Was sich aber sagen lässt: Es gibt einen grünen Faden, der sich durch alle sieben Leben zieht. Ständiges Wachstum – obwohl Matou seine Leben aus der Position des bereits Wissendenden erzählt, lässt er uns nie über seinen in der Geschichte gegenwärtigen Entwicklungs- und Wissensstand im Dunkeln. Das sorgt für eine interessante Dynamik zwischen der erzählenden Stimme des alten Matou und seiner Präsenz im Narrativ. Dieses Wachstum beschränkt sich natürlich nicht nur auf Wissen und Verständnis der Menschen und Tierwelt um ihn herum. Sondern es ist vor allem ein moralisches, inneres Wachstum, das Matou von Leben zu Leben mitnimmt.
Die Schlüsse, die Matou zieht, und die Art und Weise, wie er beispielsweise auf die Gewaltexzesse der französischen Revolution und ihre Protagonisten sieht, ist auch zu Beginn schon in seinem Entwicklungsstand am Ende seiner Leben verwurzelt. Als Lesende kennen wir also das Ziel und bekommen den Weg dorthin Stück für Stück beschrieben. Das kann Beizeiten etwas moralisierend wirken. Denn obwohl Matou seine Einschätzungen in der erzählten Vergangenheit abwägt und sich erarbeitet, so kommt der alte Matou stets zu einer relativ gefestigten (richtigen) moralischen und intellektuellen Interpretation seiner Beobachtungen.
Die Kulissen der einzelnen Leben sind auf jeden Fall erzählstrategisch gut gewählt, um die einzelnen Entwicklungen und Erkenntnisse des Katers in einen praktischen und emotional konsistenten Rahmen zu fassen. Sie erlauben uns, alle 150 Seiten ungefähr, uns in eine neue und interessante Erzählwelt einzufühlen. Nicht jede hält die gleiche Qualität. Manches Leben scheint um die daraus zu ziehenden Schlüsse herum konstruiert worden zu sein. Das ist nicht unbedingt schlecht, offenbart aber stellenweise das Gerüst, unter der sonst recht immersiven Erzählung des Romans.
Die Sprache des alten Matou ist durchwegs schön zu lesen und stellenweise ein wahrer Genuss. Die vielseitige Erfahrung des Katers am Ende seiner Leben erlaubt es Köhlmeier, sich literarisch zu entfalten, ohne die Plausibilität des Katers als Erzähler aufs Spiel zu setzten. Ein paar immer wieder eingefügte Markierungen tierischer Naivität erinnern die Lesenden periodisch daran, dass ein Kater spricht und nicht der Autor mit der Maske eines Katers.
Nicht immer gelingt dies glaubwürdig. Denn Köhlmeiers starke Präsenz als Autor, als moralischer Denker und sozialkritischer Kommentator scheint durch die Worte Matous wie ein Echo oder die Stimme eines Souffleurs unter der Bühne. Dieser Umstand in Verbindung mit den strategisch gewählten Kulissen der sieben Leben (eines Lebens im Besonderen, das zur Spoiler-Vermeidung unbeschrieben bleibt) entblößen die Erzählinstanz als solche. Das ist aber kein Problem. Denn die Idee des Romans setzt zu keinem Zeitpunkt voraussetzt, dass sich die Lesenden tatsächlich ganz auf die Fantasie einer ihr Leben Revue passieren lassenden Katze einlassen. Köhlmeiers Präsenz als Strippenzieher und Konstrukteur des siebenfachen Entwicklungsromans ist gewollt und auch derart positioniert.
Wenn man sich einem 950 Seiten starken Buch gegenüber sieht, kann das leicht ein wenig einschüchternd sein. Bei einem Buch dieser Länge fragt man sich natürlich, ob fast 1000 Seiten wirklich notwendig und gerechtfertigt sind, um zu erzählen, was es zu erzählen gilt. Die Antwort bei Matou ist ein ganz klares Jein. Zu keinem Zeitpunkt hat man beim Lesen einzelner Abschnitte das Gefühl übermäßiger Ausschweifungen oder unnötiger Einfügungen. Tritt man aber einen Schritt zurück und schaut auf das Gesamtbild, dann könnte man schon behaupten, dass nicht alles unbedingt nötig gewesen wäre und es dem Buch durchaus gut getan hätte, eine Kleinigkeit zu kürzen, ohne dabei an Substanz verlieren.
Interessant ist auch, dass sich die Länge des Romans sogar auf die Auswahl des Materials geschlagen hat. Die Seiten im Buch sind extrem dünn, damit es überhaupt Platz im Bücherregal findet. Man hat das Gefühl, eine Bibel zu halten.
Matou ist ein monumentales Werk, das trotz seiner Länge unheimlich dicht ist. Es erzählt sich gekonnt durch die Zeitalter und Eindrücke eines Katerlebens und transportiert mithilfe dieses Kunstgriffes einen Schatz an moralischen und philosophischen Überlegungen. Stellenweise ein spiritueller Nachfolger oder Reimagination von Kater Murr (ohne die Ideale der Romantik), eine Überführung des Motivs in die Feder einer gegenwärtigen Gedankenwelt – eine Rückschau aus der Denkweise des 21. Jahrhunderts. Wer also den Mut hat, sich auf 950 Seiten dichte (und nicht immer herausfordernde) Lektüre einzulassen, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt, solange man nicht mit der falschen Erwartungshaltung daran heran geht.
Matou (Hanser) von Michael Köhlmeier ist seit 23. August 2021 um 35 Euro im Buchhandel und Online erhältlich.
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Aufmacherfoto: (c) heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.