Was das in Wien spielende Coming-of-Age-Drama so fesselnd macht, liest du in unserer Kritik.
von Christoph König
Bei Coming-of-Age-Filmen, die einen realistischen, fast dokuartigen Charme versprühen und ein intimes Bild der Welt der Teenies in ihrer Welt zeichnen, denkt man sofort an den Kultfilm Kids von 1995. Für Larry Clarke war es damals ein viel gefeiertes Regiedebüt. Das ist Lovecut nun auch für die in Wien wohnende Schweizerin Johanna Lietha und die gebürtige Mexikanerin Iliana Estanol, wenn auch im weitaus kleineren Rahmen.
Der mit dem Max Ophüls Preis für bestes Drehbuch ausgezeichnete Low-Budget-Streifen arbeitet ebenso mit einem Cast ohne Schauspiel-Vorerfahrung, was ihm einen Extraschuss Authentizität verleiht. Freilich schlägt er ganz andere Töne an als Kids – der wild und vulgär, für Erschwachsene erschreckende, Einblicke in das Leben der Generation X/Y im Vor-Smartphone Zeitalter lieferte.
Lovecut geht einen anderen Weg – und das ist gut so. Denn in einer Zeit, in der ohnehin bereits alles im Netz zu sehen ist, könnte ein ähnliches Portrait der Generation Z kaum mehr jemand schockieren. Lovecut schafft es dafür die leiseren Töne zu treffen und punktet mit einer intimeren Atmosphäre. Der Film wurde in Wien gedreht.
Lovecut erzählt in Episoden die Probleme dreier junger Päarchen, die alle auf ihre eigene rebellische Art nicht in die vernunftgesteuerte Welt ihrer Eltern passen. Jakob (Kerem Abdulhamed) und die deutlich jüngere Anna (Sarah Toth) teilen ihre intimen Augenblicke gerne auf Social Media. Angestachelt von einem Freund, der ihnen Geld bietet für noch intimere Einblicke, gehen sie einen Schritt weiter und laden ein Sexvideo von sich ins Netz. Zunächst ist es für beide aufregend, doch dann stellt es plötzlich ihre Beziehung auf die Probe.
Jakobs Stiefbruder Alex (Valentin Gruber) sitzt im Rollstuhl. Das weiß seine Freundin (oder sagen wir besser Internetfreundin) Momo (Merissa Irowa), mit der er regelmäßig über Skype Video-Telefonsex hat, aber nicht. Als sie ihm gesteht, dass sie Jungfrau ist und ihn treffen will, um ihr erstes Mal mit ihm zu haben, bringt ihn das aus dem Konzept. Momos Freundin Luka (Luca von Schrader) lernt auf Tinder Ben (Max Kuess) kennen. Was sie nicht ahnt? Er ist wegen Gaunereien auf Bewährung. Was er nicht ahnt? Sie will gar keine ernste Beziehung.
Drei Beziehungskisten mit Coming-of-Age-Problemen in einen 90-Minuten-Film zu packen, ist nicht leicht. Vor allem wenn dann noch Themen wie Amateurpornographie im Netz, Kriminalität und der Umgang mit körperlichen Einschränkungen dazukommen. Die jungen Regisseurinnen meistern diesen Spagat ausgezeichnet. Lovecut ist eine runde Sache mit tollen Bildern und Sound. Und auch die Schauplätze sind gekonnt gewählt. Nicht das altehrwürdige Wien mit den typischen touristischen Plätzen, sondern die urbaneren und moderneren Grätzln mit ihren abgefuckten aber auch wildschönen Ecken stehen im Fokus.
Auch die jungen Schauspiel-Rookies machen ihre Sache erstaunlich gut. Besonders in den intimen Momenten fühlt man sich sehr nahe an den Figuren und wird in die Handlung hineingezogen. Selbige ist nicht sonderlich komplex, was bei Alex und Momo und Jakob und Anna kaum stört, bei Luka und Ben aber schon, denn ihre Beziehung wird leider zu oberflächlich behandelt. Ihre Charaktere leiden am meisten unter der kurzen Laufzeit des Films. Auch bleibt für die Aufarbeitung der Probleme mit den Eltern zu wenig Screentime. Dabei hätte gerade das aufeinanderprallen dieser zwei Welten viel Potenzial hergegeben, wie man bei einigen Szenen in der Familie von Anna sieht. So rasch abgehandelt wirken sie leider gehetzt und aufgesetzt.
Schön ist, dass die Schauspieler allesamt wienerisch angehauchtes Deutsch sprechen. Trotzdem hätten wir uns neben den paar “leiwand” und “heast” noch mehr Dialekt gewünscht. Das bewusst deutlich gesprochene Hochdeutsch mag bei anderen Filmen kaum stören. Hier kostet es aber Authentizität. Ebenso: Dass man sich manchmal nicht an die echte Jugendsprache wagt. An einer Stelle fragt Alex seinen Freund, ob er mit seiner Freundin “schon im Bett” war. Das würden wohl selbst Großelterm nicht so geschwollen formulieren. Diese Kritikpunkte fallen aber in die Kategorie: Meckern auf hohem Niveau.
Lovecut ist ein fesselndes Coming-of-Age-Drama, dem es gelingt, ein intimes Portrait der Generation Z zu zeichnen und dabei auch noch komplexe gesellschaftliche Probleme aufzugreifen – erfrischend unaufgeregt, ohne übertrieben zu dramatisieren. Der unerfahrene Cast unterstreicht den natürlichen Charme des Films. Und er hätte sogar noch authentischer wirken können, wäre man bei der Sprache noch mutiger Richtung Dialekt und Jugendsprache gegangen und wäre man noch tiefer in manche Themen eingetaucht.
Unterm Strich ist Lovecut eine der wenigen Filmperlen, die ihr im von Corona ausgedünnten Programmkalender findet. Abgesehen vielleicht von Tenet (hier unser Review), falls euch mehr nach einem Blockbuster ist. Also ab ins Kino! Am besten ihr krallt euch gleich unsere Gratiskarten. So funktioniert’s:
Alle Fotos: (c) Silverio Films
Der Chefredakteur der Helden der Freizeit hat das Onlinemagazin 2016 ins Leben gerufen und ist seit 2000 als Sportjournalist im Einsatz. Bei heldenderfreizeit.com ist er spezialisiert auf actiongeladene Outdoor-Aktivitäten, Ausflüge, Videos, Spiele, Filme, Serien und Social Media.