Wer wäre besser dazu geeignet, das Weltgeschehen zu lenken, als Bob Dylan? Niemand natürlich. Aber dazu braucht es natürlich jemanden, der all die versteckten Botschaften des Meisters mit schlafwandlerischer Sicherheit entschlüsseln kann: Den Jokerman. Und der hat auch alle Hände voll zu tun. Es gibt eine Präsidentschaftswahl zu beeinflussen. Ein Blick auf den autofiktionalen Roman von Stefan Kutzenberger.
Eine Rezension von Peter Huemer. Der Freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jedes Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
11. Oktober 2020: In seinem zweiten Roman Jokerman schickt der Oberösterreicher Stefan Kutzenberger sich selbst (oder zumindest eine Version seiner selbst) auf prophetische Weltreise. Er befolgt dabei die verschlüsselten Anweisungen von Literaturnobelpreisträger Bob Dylan. Absurd, humorvoll, intelligent und spannend – dieses Buch hat fast alles, was es für gute Literatur braucht.
Stefan Kutzenberger ist gestrandet. Seine Ehe hat sich aufgelöst, sein Romandebüt, von dem er sich Ruhm und Reichtum erhofft hat, ist nach ein paar Wochen sang und klanglos aus den Buchläden verschwunden. Er lebt als Mann mittleren Alters in einem Studentenzimmer in Wien. Die Verdienstaussichten als Doktor der vergleichenden Literaturwissenschaften sind mau. Als er gebeten wird, im Rahmen der weltgrößten Literaturkonferenz einen Vortrag zum Thema Bob Dylan zu halten, schlägt das Schicksal zu. Obwohl der Vortrag eigentlich ziemlich in die Hose geht, erregt eine Entdeckung im Text des Songs Jokerman die Aufmerksamkeit eines Bob Dylan Experten. Der lädt Kutzenberger promt nach Island ein, um ein Jahr lang zu forschen. Aber diese Forschungsreise stellt sich als Tor in eine Welt voller Prophezeiungen, Verschwörungen und kafkaesken Situationen heraus.
Der Protagonist in Jokerman teilt sich mit dem Autor nicht nur seinen Namen, sondern auch den Großteil der Biografie. Autofiktion nennt sich dieses Genre, und Stefan Kutzenberger ist in Theorie und Praxis ein Experte. Wo die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion liegen, verwischte er bereits in seinem Erstlingswerk Friedinger gekonnt und zieht diese Linie weiter. Dabei gibt es wie schon in Friedinger vor allem ein Schlüsselereignis, das die Handlung des Romans von jener des echten Lebens abweichen lässt und Kutzenberger auf Abenteuerreise schickt. Zufälligerweise befand ich selbst mich 2016 im selben Raum an der Universität Wien, als dieses erzählte Ereignis nicht geschah.
An der Oberfläche ist Jokerman ein cleveres Buch voll Situationskomik, spannenden Wendungen und skurrilen Figuren. Darunter verbirgt sich aber viel mehr. Zahlreiche Charaktere aus Kutzenbergers erstem Buch haben kleinere oder größere Auftritte, jeder scheint jeden zu kennen, immer tritt zum richtigen Zeitpunkt die richtige Person auf den Plan und es gibt eine Reihe überraschender Verwandtschaftverhältnisse. Für den durschnittlichen Leser sind diese scheinbaren Zufälle unterhaltsam und witzig. Eigentlich ist das Ganze aber eine Anlehnung an Mittelalterliche Grals-Epen (Romanzen), wie zum Beispiel Parzival. Der Held reist durch die ganze Welt auf der Suche nach etwas ganz Bestimmten (Gral) und trifft überall immer wieder selbstverändlich dieselben Charaktere, die ihm auf seiner Reise unterschützen oder hindern. Ein toller Kniff, der es Kutzenberger erlaubt, noch die haarsträubendsten Zufälle ganz natürlich und folgerichtig erscheinen zu lassen.
Es sind aber nicht nur mittelalterliche Einflüsse, denen Kutzenberger sich bedient. Vor allem in der ersten Hälfte des Romans lässt Kafka grüßen. Der Aufenthalt in einem abgelegenen isländischen Dörfchen, wo es scheint, als habe die Welt plötzlich eine andere unergründliche Logik, erinnert an Kafkas Das Schloss. Wäre das Buch nicht so leichtherzig geschrieben, könnte man sich richtig gruseln. Der Protagonist führt absurde Gespräche mit den Einheimischen, man redet aneinander vorbei und wird kaum schlauer. Gleichzeitig dreht sich plötzlich alles um den Neuankömmling, Jeder kennt ihn: Jeder weiß scheinbar alles über ihn und trotzdem versteht man sich kaum. Das führt im Gegensatz zu Kafka in Jokerman aber zu spaßigen Interaktionen anstatt zu bedrückenden.
Trotz einer Länge von 350 Seiten prescht die Handlung von Jokerman regelrecht voran. Trotz einiger Abschweifungen und Rückblenden treibt Kutzenberger das Geschehen von einem Punkt zum nächsten, ohne dabei zu sehr zu hetzen. Die Anlehnung an reale Ereignisse und wirkliche Erlebnisse zeigt sich in den detailreichen Beschreibungen, die stets auch gekonnt mit Gedanken und Emotionen des Protagonisten verknüpft sind. Das Buch ist immer dann am stärksten, wenn Kutzenberger über Gegebenheiten siniert oder Erlebtes mit Ereignissen der Vergangenheit in Verbindung bringt. Diese Abschweifungen eröffnen neue Perspektiven auf die Handlung und zeigen sich meist im Nachhinein relevant.
Was lässt sich kritisch anmerken? Stilistisch sind ein bis zwei Stellen im Roman etwas holprig. In manchen Phasen, in denen vor allem Exposition abgehandelt wird und es nur darum geht, einen Sachverhalt zu erklären oder den Protagonisten einen Schritt weiter zu bringen, wirken plötzlich ein paar Zeilen lang, die Sätze nicht mehr flüssig. Immerhin erfüllen sie aber ihren Zweck und trüben den Gesamteindruck nicht. Kaum ein Buch, in dem jede Sequenz perfekt geflochten ist.
Manchmal erliegt Kutzenberger auch der Versuchung etwas einmal zu oft zu erklären, etwas schon Erwähntes noch einmal zu schreiben ohne, dass dies wirklich nötig gewesen wäre. Das ist zwar nützlich, um stets allen Ereignissen folgen zu können, hindert aber den Erzählfluss. Es soll halt niemand auf der Strecke gelassen werden. Manch Lesender dürfte sich sogar drüber freuen.
Jokerman ist ein Musterstück autofiktionaler Literatur, das sich mühelos unter die Größen des Genres mischt. Gleichzeitig vermengt Stefan Kutzenberger aktuelle Ereignisse, wichtige Themen und emotionale Lebenserfahrungen humorvoll und mithilfe kluger Anspielungen zu einem Buch, das für Literaturkenner und Laien gleichermaßen zum Genuss wird. Auf jeden Fall für jeden Dylan-Fan. Und sind wir das nicht alle?
Jokerman von Stefan Kutzenberger ist seit 3. August 2020 in jeder gut sortieren Buchhandlung oder im Online-Handel um 22,00 Euro erhältlich.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.