Wie würden wir als Zuschauer den Batman-Bösewicht Joker sehen, wenn er im Geiste des gesellschaftskritischen New-Hollywood-Kinos vor rund 40 Jahren entstanden wäre? Wäre er nach wie vor der selbstgerechte Antagonist oder ein missverstandener Verlierer, der unsere Sympathie verdient? Regisseur Todd Phillips nähert sich dem Thema in seiner Hommage an das Kino der 60er und 70er mit den Befindlichkeiten von heute, verliert sich aber in seiner Bildsprache immer wieder in Selbstgefälligkeit.
von Susanne Gottlieb
Übrigens: Hier unser Fazit zum Sequel Joker: Folie à deux!
Sind Comic-Buch-Filme richtige Filme? Regie-Legende und New-Hollywood-Größe Martin Scorsese sagt nein. Trotzdem sind es gerade seine Werke, die diese „Nicht-Filme“ zu Größerem inspirieren. Irgendwo zwischen den Scorsese-Klassikern Taxi Driver und The King of Comedy angesiedelt, ist Joker Todd Phillips Weiterführung des wütenden, von der Gesellschaft vernachlässigten und auf Rache sinnenden Individuums. Sogar Robert de Niro, Hauptdarsteller beider Filme, findet sich auf der Cast-Liste.
Doch seit den späten 70ern und frühen 80ern hat sich unsere Kultur in ihrer Rezeption der Wütenden weiterentwickelt. Und so wird derzeit nicht heftig diskutiert, ob Joaquin Phoenix‘ Figur ein fehlgeleitetes Opfer seiner Umstände ist. Vielmehr ergibt sich eine vielschichtigere Frage: Ist der Joker ein weißer Wutbürger, der seinen Anspruch, in der Welt Erfolg, Liebe und Anerkennung ohne Grundlage zu erfahren, notfalls mit Gewalt umsetzt? Eine eindeutige Antwort gibt Phillips in seinem Film nicht. Dazu spielt er auch manchmal zu selbstverliebt mit dem Wahnsinn seines Protagonisten. Warum der Film sich dennoch lohnt, lest ihr in unserer Kritik.
Gotham City, 1981. Außenseiter Arthur Fleck (Phoenix) fristet ein frustrierendes Dasein. In seiner Arbeit als Partyclown wird er immer wieder zum Ziel von Angriffen und Erniedrigungen. Daheim muss er sich um seine schwerkranke Mutter Penny (Frances Conroy) kümmern, die aus irgendeinem Grund immer wieder Briefe an den snobistischen Milliardär Thomas Wayne (Bret Cullen) schreibt. Außerdem leidet Arthur an einer neurologischen Störung, die ihn in den unpassendsten Momenten immer wieder unkontrolliert zu lachen anfangen lässt.
Eigentlich will der introvertierte Mann Stand-up Komiker werden. Sein großes Vorbild ist Late-Night-Show Host Murray Franklin (de Niro), dessen Show er regelmäßig mit seiner Mutter schaut. In ihm sieht er die Vaterfigur, die er nie hatte. Doch so kaputt Arthurs Leben ist, so kaputt ist auch die Stadt. Es herrschen Rücksichtslosigkeit und Gewalt, die breite Masse versinkt in Armut und muss sich von Großindustriellen wie Wayne anhören, sie seien wegen ihres Zustands in seinen Augen „Clowns“.
Dieses Elend und der Dreck der Stadt wirken sich auch rückkoppelnd auf Arthurs Leben aus. Sein psychischer Zustand beginnt sich zu verschlimmern, als den öffentlichen Mitteln die Gelder gestrichen werden und er seine Medikamente nicht mehr nehmen kann. Er verfällt zunehmend in Wahnvorstellungen. Doch anstatt die Konsequenzen präsentiert zu bekommen, scheint sich an seinem Beispiel ein Mob zu organisieren, der gegen die Elite aufbegehrt und Gotham auf immer verändern wird.
Todd Phillips, der bisher eher für leichtgewichtige Komödien wie die Hangover-Trilogie bekannt war, widmet sich hier schwereren Kalibern. Er setzt einen Mann ins Zentrum seiner Handlung, dem im Leben übel mitgespielt wurde und der zu dem Schluss kommt, er muss sich das was ihm zusteht mit Gewalt und Mord holen. Eine Hymne für Incels nannten einige Kritiker nach der Premiere in Venedig das fertige Werk.
Tatsächlich ist vieles, was Arthur im Laufe des Films beklagt, ungebändigtes Selbstmitleid. Der Film macht keinen Hehl daraus, dass – parallel zu den gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit – die Mittelklasse am absteigenden Ast sitzt und von der Elite verhöhnt wird, zu der sie sich hilfesuchend wendet. Gleichzeitig verschuldet Arthur viele Rückschläge selbst. Er bringt etwa eine Waffe zur Arbeit und projiziert Wunschbilder auf andere, die sie nicht erfüllen können. Dass er darauf gewaltsam reagiert, ist das klassische Beispiel toxischer Männlichkeit, die das Streben nach Macht und Aufmerksamkeit und das Verdrängen von Konflikten und Emotionen in sich vereint.
Was Phillips weniger kontroversiell immer wieder einbauen kann, ist die subtile Kritik am amerikanischen Traum, an den Leistungen und Zielen, die das Land von einem verlangt. „Es wird erwartet, dass man sich verhält, als wäre man es nicht“ kritzelt Arthur als einen seiner wirren Gedanken in sein Tagebuch und Witzeheft. Als er gekündigt wird beschmiert er ein Schild, dass seinen Leser auffordert „Vergiss nicht zu lächeln“. Dieses gekünstelte immer freundliche Wesen, das nach Höherem strebt und den Erfolg erntet, ist das ultimative Schreckgespenst des amerikanischen Kapitalismus. Doch unter diesem falschen Lächeln ist das nackte Schreien und Arthurs Lachen sein gespenstisches Echo.
Wem der abstrakte Symbolismus noch nicht genug ist, der bekommt nochmals die volle Ladung mit dem Setdesign. Gotham ist ein düsteres Fleckchen, in dem der Dreck in jeder Einstellung quasi von der Leinwand trieft. Superratten bemächtigen sich der Stadt und alles ist mit Graffiti und überquellenden Mülltonnen übersäht. Ob die Ecken New Yorks, die als Drehort herhalten mussten, wirklich so heruntergekommen sind, lässt sich diskutieren. Sicher ist aber: Die Stadt ist genauso kaputt wie Arthur selbst. In beiden Fällen wird es keinen Retter geben, der sie wieder aus dem Morast zieht. Wenn der Joker durch die Straßen zieht, dann multipliziert sich der visuelle Ranz noch durch die düsteren Klänge der isländischen Komponistin Hildur Guðnadóttir, die schon mit ihrem jüngst verstorbenen Landsmann Jóhann Jóhannsson einem das Schauern über den Rücken jagte und auch die Musik für Sicario 2 und Chernobyl geschrieben hat.
Woran der Joker letztendlich leidet, ist seine eigene Wichtigkeit und provokante Selbstverliebtheit. Phillips drückt einem quasi mit dem Vorschlaghammer aufs Auge, wie kaputt sein Protagonist ist. Das fängt schon mit seinem leicht fetischierenden Verweilen auf dem Lacher Phoenix‘ an und zieht sich durch das ganze Repertoire seiner Figur. Phoenix liefert ohne Zweifel eine Meisterleistung und eine der besten Perfomances seiner Karriere, die sicher in einer Oscarnominierung enden werden. Wenn Philipps aber die bedrückende Musik mit den visuellen tänzerischen Gebärden Phoenix in einer Sinfonie des Grauens vereint, dann wirkt das wie eine abstraktere Version des offensichtlicheren „Damaged“ Tattoos Jared Letos. Dadurch verliert der Film manchmal an Momentum und fordert den Zuseher zu sehr auf, mit dem Gezeigten stumm an Bord zu hüpfen, statt ihn diese Erkenntnisse selber sammeln zu lassen.
Joker ist definitiv einer der kontroverseren und interessanteren Filme des Jahres. Ob er den Test der Zeit besteht, wird sich zeigen. Die Macher haben klar gemacht, dass ihr Film kein Franchise starten wird, sondern für sich selbst steht. Was er aber schafft: Er fördert kulturell-gesellschaftlich-kritische Gedankengänge und zwingt den Zuschauer, sich ultimativ eine Meinung zu bilden.
In unserem Seher-Bereich findest du Kritiken zu den neuesten Kinofilmen, den coolsten Serien und Vorschauen darauf, was uns in Zukunft erwartet.
Alle Fotos: (c) Warner Brothers
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.