Das Buch Günther. Giftler, Gammler, Plattensammler schreibt die Geschichte eines Besessenen auf, der ständig auf der Suche ist. Auf der Suche nach Musik, auf der Suche nach Freiheit und später, leider sehr lange, auf der Suche nach dem Gift. Andi Appel hat sie mit viel Empathie und Fingerspitzengefühl aufgeschrieben, und Wolfgang Ambros, damals Stammgast in der Camera und im Voom Voom, hat sie mit einem Vorwort versehen.
von Christian Orou
Günther Holtschik ist in Wien bekannt. Zumindest in gewissen Kreisen. Wenn sie zwischen 60 und 70 Jahre alt und in Wien aufgewachsen sind, wenn sie sich für Musik interessieren und in Plattenläden (hier ein Guide mit den aktuell besten in Wien) nach den neuen Alben von, sagen wir einmal, Deep Purple oder Iron Maiden suchten oder suchen oder Konzerte in der Arena oder im Rockhaus frequentierten, wenn sie vielleicht sogar auf einem Stones-Konzert waren und dafür bis nach Prag gefahren sind, dann sind sie sicher Holtschik begegnet.
Übrigens: Falls ihr noch tiefer ins Wien der 60er Jahre eintauchen wollt – können wir euch das Buch Das Café ohne Namen auch sehr empfehlen. Lest hier unsere Rezension.
Andi Appel, der sich bereits mit der Biografie der Wiener Rockinstitution Blind Petition einen Namen gemacht hat, ließ sich von Holtschik seine Geschichte erzählen und schrieb sie in seinem neuen Buch Günther. Giftler, Gammler, Plattensammler auf. Ehrlich und ungeschönt. Vom Vater, der aus Stalingrad zurückkehrte, aber nicht mehr ins Leben zurück fand. Von der Mutter, die Holtschik liebte, ihn aber wegen seiner Drogensucht vor die Tür setzte, und von seinen beiden Passionen: der Musik und den Drogen.
Wer zwischen 1950 und 1960 geboren wurde, kennt sicher die Orte, die in Günther Holtschiks Geschichte eine tragende Rolle spielen: den Theseustempel, das Café Savoy, die Gärtnerinsel, das Voom Voom und natürlich die Camera Obscura, kurz Camera, am Beginn der Neubaugasse. Für alle, die vor 1950 geboren wurden, waren diese Orte der Hort des Bösen, die Heimat des Gottseibeiuns, bevölkert von langhaarigen Gestalten, die seltsame, verstörende Musik hörten. Für diejenigen, die nach 1960 geboren wurden, waren das mythische Plätze, an denen jene Geschichten spielen, die Holtschik zu erzählen weiß.
Das Buch ist eine Reise durch die Wiener Zeitgeschichte und macht bewusst, wie sich Wien in den letzten fünf Jahrzehnten verändert hat. Von den ersten Konzerten mit Sitzplätzen in der Stadthalle und im Konzerthaus über die Arenabesetzung, das alte Chelsea in der Piaristengasse bis zum Rockhaus am Engelsplatz und den Konzerten im Stadion sind die Orte und Ereignisse bekannt. Sofort entstehen Bilder im Kopf. Wenn Holtschik vom autonomen Jugendzentrum in der Gassergasse erzählt, werden sich noch einige an die ikonischen Bilder von prügelnden Polizisten erinnern. Auch die Bands, in denen Holtschik den Bass spielen durfte, sind vor allem Insidern bekannt, zum Beispiel Randy Skunk oder Timeshift.
Das Buch ist aber nicht nur eine Reise durch die jüngste Geschichte von Wien und durch die Geschichte des Rocks der härteren Spielart, es ist auch die Geschichte einer Sucht nach verschiedenen Substanzen. Appel macht daraus kein Heldenepos. Er erzählt von der Verführung, die von Drogen ausgeht und von der Geschwindigkeit, mit der man ihnen verfallen ist. Und er erzählt von dem Elend, in dem sie Günther Holtschik zurückgelassen haben. Vor allem erzählt er aber von den Menschen, die ihm aus dieser tiefen Krise heraus geholfen haben.
Der Text ist bewusst nicht ins Hochdeutsche übertragen. Appel blieb bei einem Idiom, das einem wienerischen Deutsch sehr nahe ist. Dadurch hat man beim Lesen oft das Gefühl, man sitzt Günther Holtschik im Arenabeisl gegenüber und lauscht seinen Erzählungen. Wenn Sie das nächste Mal in der Arena sind, gehen sie ins Beisl und fragen den Mann hinter der Bar, welches das beste Album der Rolling Stones ist. Wenn er mit Voodoo Lounge antwortet, kann es sein, dass Sie Günther Holtschik getroffen haben.
Andi Appel: Günther – Giftler, Gammler, Plattensammler, Resonance Verlag, 2023, 212 Seiten, 24 Euro.
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Aufmacherfoto: (c) Luna Niederberger, Resonance Verlag
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