Sophia Lunra Schnacks poetisches Roman-Debüt feuchtes holz führt uns traumhaft durch Raum und Zeit auf eine Reise durch die Generationen und deren Spuren im Leben und Erleben einer wabernden Gegenwart.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schrifsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
5. September 2023: Du kommst ins Haus deiner Kindheit. Eine Ausgangssituation, die sich feuchtes holz mit vielen Geschichten teilt. Erinnerungen und Eindrücke, Gerüche, Gefühle auf der Haut und lange vergessene Gedanken erwachen und strömen von überall auf einen ein. Alles will erforscht und erfahren werden. Denn im Eigenen spiegelt sich das Fremde, die Fetzen der Familie, deren Leben als junge Menschen bevor sie Urgroßmütter, Großmütter, Mütter waren. Auf einmal verschwindet die Gegenwart und wird zur Allzeit.
Dieses Buch als Roman zu deklarieren könnte einem auf den ersten Blick vielleicht als Etikettenschwindel erscheinen, wenn der Text nach wenigen Seiten auf einmal in Vers gesetzt wird und dies auch zum Großteil über die nächsten dreihundertfünfzig Seiten bleibt. Außerdem stellt sich nie direkt eine herkömmliche Handlung ein, kein Plot, der einen Protagonisten durch die Geschichte leitet. Stattdessen muss das Geschehen aus der Reihe von weit aufgefächerten Eindrücken einer Heimkehr ins Haus der Großmutter am See in der Steiermark herausgeschält werden.
Schnell aber fällt einem auf, dass es gar nicht so wichtig ist, was Schritt für Schritt passiert. Für die Regeln des Genres interessiert sich Sophia Lunra Schnack in feuchtes holz genausowenig wie für die Regeln der Satzbildung – wer braucht schon ein Prädikat? In der Lyrik niemand! Und in lyrischer Prosa wie dieser schon gar niemand. Da ist es nur konsequent, dass auch auf Groß- und Kleinschreibung verzichtet wird. Sobald man ein paar Seiten weit in den Sog geraten ist, verlieren diese Eigenheiten ihre Merkwürdigkeit und werden zum Natürlichsten der Welt. Natürlich muss das genauso sein.
Der Roman wogt wie die sanften Wellen des Sees von Eindruck zu Eindruck und wieder zurück. Jeder Geruch löst ein Bild aus und jedes Bild eine Emotion, die erforscht werden will. Und zu diesen Emotionen kommt der Versuch, die Art und Weise, wie diese Emotionen entstehen, aus was sie bestehen, in Worte zu fassen. Es ist nicht ein Fühlen, sondern ein Hineinströmen, Umreißen, Stolpern, Ausbreiten etc. Die Orte, das Haus der Großmutter, die Gärten drumherum, die Nachbarn, der Wald, der See sind aber nicht Protagonisten, sondern Katalysatoren, die Echos ihrer früheren Bewohner – weit über die Erinnerungen der Heimkehrenden hinaus.
Die aus den Echos enstehenden Kleinstepisoden folgen selten lange einem Strang, sondern kreisen um die Themenblöcke, nähern sich an und verlieren dann wieder den Faden, bis ein weiteres Echo sie zurückführt. Der Krieg, das Leid und auch die Vefehlungen der Urgroßeltern, die Last, die auf dem Haus und dem Ort liegt, schleicht sich beispielsweise langsam ein, entspringt einem Foto, einer Vorstellung von den Urgroßeltern als junge Menschen und verschwindet dann wieder, nur um viele Seiten später zurück an die Oberfläche zu kommen.
Erzählerisch ist dem Ganzen oft schwer zu folgen. Aber umso mehr belohnt einen das Buch, wenn es einem gelingt, wenn man die nötige Aufmerksamkeit mitbringt. Genauso verhält es sich mit der Sprache. Nicht immer ist es leicht, in den Fluss des Textes einzutauchen, weil unvollständige Texte und fehlende Worte als Stolpersteine im Weg auftauchen. Das passiert immer dann, wenn man für einen Augenblick vergisst, dass man sich eigentlich in einem einzigen langen Gedicht aufhält, das auch lesetechnisch eine lyrische Geisteshaltung voraussetzt.
feuchtes holz von Sophia Lunra Schnack ist ein anspruchsvolles, schwieriges und unkonventionelles Buch, das einen aber mit komplexen Emotionen, treffenden Beobachtungen und sprachlichen Kleinoden belohnt, wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen.
feuchtes holz ist im August 2023 im Otto Müller Verlag erschienen.
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Aufmacherfoto: (c) heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.