Mit Freunden durch die Wälder West Virginias streifen. Eine idyllische Vorstellung, wären da nicht die verstrahlten Tiere, Ghule und Super-Mutanten. Die Helden der Freizeit nehmen Fallout 76, das neue Rollenspiel von Bethesda, in ihrem Test genauer unter die Lupe. Was man sich von dem Apokalypse-Game erwarten darf, und was nicht.
von Christoph Geretschlaeger
Fallout 1 und 2 waren rundenbasierte Spiele mit teilweise archaischen Mechaniken in isometrischer Perspektive. In Fallout 3 konnte man endlich in Ego-Perspektive und in Third-Person das Wasteland erkunden. Fallout: New Vegas gilt noch heute als Gold-Standard für Rollenspiele, mit komplexen Handlungssträngen und qualvollen, moralischen Entscheidungen. Dann kam Fallout 4: massiv eingeschränkte Dialogoptionen, Basisbau, sich wiederholende Aufträge und (zumindest auf Konsolen) schrottige Performance.
Auf das alles baut nun Fallout 76 auf (die Jahreszahl referenziert die amerikanische Unabhängkeitserklärung von 1776), aber jetzt kann die post-apokalyptische Ödnis gemeinsam erkundet werden. Wieviel Spaß das machst, erfährst du jetzt in unserem großen Review.
Waffen sind am Anfang rar, hauptsächlich Nahkampfwaffen mit hie und da einer Rohrpistole. Munition ist sündteuer und vor allem selten. Halb so wild, da Pistolen kaum Schaden machen. Da lob’ ich mir die Machete oder den Vorschlaghammer. Leichter Angriff, blocken, schwerer Angriff – die eingeschränkte Intelligenz der Kakerlaken, Zecken und Ghule macht den Nahkampf schaffbar. Erst wenn die Ghule zurückschießen wird es brenzlig. Aber dafür lassen die gelegentlich eine funkelnde 10mm-Pistole in ihrer Asche zurück.
Im Laufe des Spiels finden wir Jagd- und Sturmgewehre, Laserwaffen und sogar Granatwerfer. Auch die Nahkampfwaffen werden interessanter. Legendäre Gegner haben die Chance (wie in Fallout 4) Waffen mit speziellen Eigenschaften zu droppen. Da gibt es den mit Nägeln verzierten Baseball-Schläger, der Rüstung ignoriert, oder die Schrotflinte, mit der wir 15 Prozent weniger Schaden beim Sprinten bekommen. Abwechslung ist in der Ödnis unerlässlich. An der Werkbank verbessern und verändern wir Waffen und Rüstungen, die richtigen Rezepte und Materialien vorausgesetzt. Wer seine Allmachts-Fantasien ausleben will, findet in der Welt verstreut Power-Armor. Mehr aushalten, schneller laufen, Feuer mit Feuer erwidern. Das ist das West Virginia der Zukunft.
Neben der Ballerei schlägt man mit dem C.A.M.P.-System Wurzeln. Jeder Gegenstand wird aufgesammelt um Material für die eigenen vier Wände zu haben. Keramik von der Kaffeetasse, ein Stück Alu vom Servierblech. Kochstellen, Werkbänke, Sträucher, Brunnen und Betten, alles was man braucht für eine kleine Farm. Auf Knopfdruck wird zusammengepackt und übersiedelt – wenn einem das Terrain wohlgesonnen ist.
Das bewährte S.P.E.C.I.A.L.-Prinzip kommt auch in Fallout 76 zum Einsatz. Mit einer Neuerung: zusätzlich zum Hochleveln der Attribute wie Stärke (S), Wahrnehmung (P für Perception) und Glück (L für Luck), öffnet man mit dem Levelanstieg eine Packung Karten, ähnlich einem Magic-Booster-Pack. Dort stecken allerlei nützliche und nicht ganz so nützliche Perks drinnen. Schnellere Aktionspunkte-Regeneration (sprinten oder Körperteile anvisieren) etwa, oder weniger Radioaktivität vom Genuss verseuchter Lebensmittel.
Jeder Skillpunkt erlaubt mehr dieser Perk-Karten. Bekommt man mehrere gleiche Karten kann man sie zusammenschmelzen. Kann also mit 2 Punkten in Wahrnehmung, zwei Lvl-1-Karten oder eine Lvl-2-Karte verwenden. Praktisch ist, dass Karten jederzeit getauscht werden können. Am Schlösserknacken? Dafür gibt’s eine Karte. Mit Freunden unterwegs? Die entsprechende Charisma-Karte aktivieren und die Gruppe hält mehr aus. Allein im Ödland? Auch dafür gibt es spezielle Karten. Abwechslungsreich und mit viel Spielraum für Individualität.
Ich suche ein Kind. Die Spur führt zu einem zerstörten Wasserpark. Ich gerate unter Beschuss – zwei Spieler. Eigentlich wollte ich nach dem Auftrag ins Bett gehen, ignorieren wir sie mal. Dank dem PVP-Modus kratzen sie kaum an meinen Lebenspunkten, erst wenn ich zurückschieße, machen beide Parteien vollen Schaden. Den entscheidenden Hinweis zum vermissten Jungen finde ich ganz oben auf der Wasserrutsche. Meine Verfolger haben inzwischen zu Schrotflinten gewechselt, mit gleichbleibendem Effekt. Zur Sicherheit esse ich etwas verstrahlten Hirsch, damit mein Leben im grünen Bereich bleibt.
Weil ich natürlich überladen bin, ich musste ja den fünften Gaskanister und den dritten Farbkübel mitnehmen, schleppe ich mich gehend Richtung C.A.M.P. Auf der langsamen Flucht laufe ich einem legendären Ghul über den Weg. Im Hinblick auf meine Verfolger versuche ich jedoch an ihm vorbeizukommen. Stur wie ich bin, nehm‘ ich lieber Stimpaks, als erbeutete Gegenstände über Bord zu werfen. Nach hundert Metern hat der Ghul wieder Besseres zu tun, meine zwei Freunde jedoch noch immer nicht. Erst der Blick auf meine ausgebaute Basis, mit vier Geschütztürmen, zwingt sie zum Abbruch ihrer Jagd. Mission erfüllt? Nicht ganz, aber ich weiß zumindest wo sich das Kind als nächstes versteckt hat.
Eines weiß ich mit Sicherheit. Das Kind ist tot. Woher ich das weiß? Es gibt in Fallout 76 keine menschlichen NPCs. Vorab als Highlight verkauft (zweifellos um Interaktionen zwischen Spielern hervorzuheben) entpuppt sich der Kniff als Spielverderber für viele Missionen. Wenn man weiß, dass am Ende der Fahnenstange wieder eine Leiche (mit maximal einem Tonbandl zur Erklärung) wartet, verlieren Aufträge an Reiz und Zeitdruck. Geht man davor halt noch Blumen pflücken.
Interagiert wird neben anderen Spielern hauptsächlich mit Robotern, deren Aufmerksamkeit für einen Spieler reicht. Verkauft einer gerade, ist der Roboter für andere nicht ansprechbar. Das Schicksal der Menschen und der Hauptstrang der Story werden über gut vertonte Tonband-Aufnahmen erzählt, nicht von klassischen Questgebern.
Andere Spieler sind meistens halt auch da, man läuft aneinander vorbei, wirft sich Emotes zu und zieht weiter. Kämpft man gegen stärkere Monster, kommt ein höherleveliger Spieler vorbei und haut den Gegner sofort aus den Latschen, während unsereins mühsam Deckung sucht oder ewig herumtut. Erst später braucht man eine Gruppe, zum Leveln kommt man ohne eine aus. Das machen andere Multiplayer-Spiele, vor allem (richtige) MMOs wesentlich besser. Erklär‘ mal ohne Text-Chat (es gibt nur Gesten und Voice-Chat) einem Wildfremden, dass du gerne auf deinem Lieblings-Scharfschützen-Gewehr ein neues Zielfernrohr hättest. Und vertraue ihm/ihr dann deine Waffe an.
Anfangs regnet es für jede Aktion Atompunkte, fürs Pflanzen-Pflücken, Basis-Bauen oder Riesen-Kakerlaken schlachten. Bis beim Blick in den Atom-Store ein eiskalter Schauer über den Rücken rennt: kosmetische Gegenstände, wie Hüte und Hemden sind ordentlich teuer. Bekommt man für den Abschluss der täglichen Mission vielleicht 50 Punkte, und für laufend im Umfang steigende Aufgaben (zuerst 10 Zecken-Kills, dann 100 etc.) gerade einmal 10, kosten die billigsten Hüte schon 500. Bilderrahmen für den Photomode sind ab 300 zu haben, gestreifte Leiberl hingegen, schlagen mit 600 zu Buche. Kein Wunder, soll man diese (rein kosmetischen) Gegenstände doch mit Echt-Geld kaufen. Ca. 5 Euro für 500 Punkte ist der Wechselkurs. Wer gibt sich heutzutage schon mit dem Verkauf eines 60-Euro-Titels zufrieden?
Fallout 76 bietet klassische Fallout-Rollenspiel-Ware mit witzigen Neuerungen. Abwechslungsreiche globale Events, die mit anderen Spielern erledigt werden können, Roboter mit trockenem Humor und eine Welt, die viel zu erzählen hat. Überall lauern kleine Geschichten. Zwei Skelette, die eng aneinander gekuschelt auf einer Decke liegen. Eine Geburtstagsfeier von der nur mehr die Luftballons übrig geblieben sind und, und, und. Sowie der nach wie vor etwas holprige Basisbau aus Fallout 4 – diesmal speichert sich die Basis und lässt sich an einem anderen Ort, für ein paar Kronkorken, wieder aufbauen.
Knallharte Spieler-gegen-Spieler-Action? Fehlanzeige! Der Nervenkitzel, alleine in der Ödnis herumzuirren, fällt weg. Man sieht andere Spieler auf der Karte und ein Großteil der Begegnungen verläuft freundlich.
Tiefgründige menschliche Dramen fallen durch den Verzicht von anderen Menschen weg. Epische, denkwürdige Story-Momente gibt es keine. Noch schwerwiegender ist das Fehlen von Dialogoptionen. Viel zu oft werden einem in Spielen Konsequenzen für seine Handlungen versprochen. ’76 geht den entgegengesetzten Weg. Du hast einfach keine Entscheidungen – zumindest bis du nukleare Launch-Codes findest.
Fallout 76 hat seine Schwächen. Grafisch veraltet, kein gemeinsamer Basisbau, keine nennenswerte Story (eher ein Pfad der einem vorgeschlagen wird, um von Ort zu Ort zu ziehen). Doch das überarbeitete Rollenspiel-System und eine ausgeklügelte Welt, die zum Entdecken einlädt, treffen den richtigen Nerv. Sogar mit dem in Fallout 4 verhassten, weil unnötig komplexen, Basisbau habe ich mich angefreundet.
Der in die post-apokalyptische Zukunft verfrachtete 50er- und 60er-Jahre Charme zieht noch immer. Wenngleich mir ein Singleplayer-Rollenspiel mit einer sprechenden Haupt-Figur, Dialogbäumen und Neben-Charakteren weitaus lieber gewesen wäre.
In unserer Spieler-Rubrik verwöhnen wir dich mit Tests, News und Storys zu den besten Games. Bookmarke schon mal unsere Seite.
Alle Bilder (c): Screenshots, Bethesda
Der Grafiker und Art Direktor (Helden der Freizeit, Styria Verlag) aus Wien ist ein absoluter Game- und Film-Kenner. Das zeigt das in seinen Tests und Bestenlisten.