Evelyn ist am 11. Jänner 2024 verstorben. Sie hat uns mit ihrer Geschichte und ihrem Einsatz unglaublich inspiriert. Dieses Interview haben wir noch im Sommer 2023 mit ihr geführt:
„Etwas zurückgeben zu können, ist unglaublich schön.“ Evelyn Brezina macht sich als Influencerin und Aktivistin für einen besseren Umgang mit behinderten Menschen stark und begeistert dabei auf Social Media mit ihren Fotos aus der Rollstuhl-Perspektive. Unsere Heldin des Monats.
von Verena Fink
Ich treffe mich mit Evelyn an einem schönen Dienstagnachmittag im fünften Bezirk. Sie wirkt gut gelaunt, scherzt herum. Man merkt, sie redet gern und viel. Evelyn erzählt von ihren größten Wünschen, Zukunftsvisonen, dem Influencerin-Dasein, der politische Lage für behinderte Menschen in Österreich. Über ihre Krankheit Osteogenesis Imperfecta, auch Glasknochenkrankheit genannt, wegen der sie seit ihrem achten Lebensjahr im Rollstuhl sitzt: auf ihrem reichweitenstarken Instagram-Account @vienna_wheelchair_view thematisiert Evelyn ihre Krankheit und Barrieren, zeigt die Bundeshauptstadt aus ihrem ganz persönlichen Blickwinkel und – vor allem – stellt ihr fotografisches Talent unter Beweis. Unsere Heldin des Monats im Interview.
Evelyn Brezina: Ich sitze seit ca. meinem achten Lebensjahr wegen der Glasknochen-Krankheit im Rollstuhl. Normalerweise hat man sie von Geburt an, es ist also ein Gendefekt. Bei mir wars aber nicht so. Bis zu meinem sechsten Lebensjahr war ich ein völlig normales Kind, bin herumgetollt, eisgelaufen, radgefahren, und habe erst dann langsam Probleme bekommen, weil ich Schmerzen beim Gehen hatte. Meine Eltern sind mit mir von einem Arzt zum anderen gelaufen, keiner hatte aber eine Ahnung, was los ist.
Mit acht Jahren habe ich mir dann den Oberschenkel zum ersten Mal gebrochen. Zwischen meinem achten und fünfzehnten Lebensjahr hatte ich extrem viele Brüche. Damals wurden sie aber noch anders behandelt. Man hat mir damals durchs Knie einen Nagel gebohrt und dann ein Gewicht angehängt, damit der Oberschenkel auseinandergezogen wird und der Bruch zusammenheilen kann. Dann musste ich 10 Wochen nur ruhig liegen und bin total schwach geworden, die Knochen haben an Kraft verloren, und der Teufelskreis hat wieder von vorne begonnen. Mit 13 hat man mir dann Metallstäbe in den Oberschenkel operiert, damit mir meine Knochen nicht mehr brechen. Ich bin damals drei Monate nur gelegen. Dann hieß es, ich muss wieder sitzen, leider hat sich dann aber meine Wirbelsäule einmal nach links und einmal nach rechts je um 90 Grad verkrümmt. Damit war meine Zukunft im Rollstuhl besiegelt.
Mit 13 hat man mir dann Metallstäbe in den Oberschenkel operiert, damit mir meine Knochen nicht mehr brechen.
Brezina über ihre Leiden mit der Glasknochen-Krankheit.
Es gibt in Österreich ein paar hundert Menschen, die davon betroffen sind, das ist jetzt nicht wirklich viel. Budget gibt es auch kaum, zumindest kennen aber Ärzte in der Notaufnahme mittlerweile zumindest die Diagnose schon. Anders, wie vor 30 Jahren. Zumindest bei Kindern gibt es aber jetzt schon bessere Methoden.
Ich habe immer schon gerne fotografiert. Mit 10 Jahren habe ich meine erste Kamera von meinen Eltern bekommen. Mein Vater war schon ein leidenschaftlicher Fotograf. Wenn man im Rollstuhl sitzt, ist das ein cooles Hobby. Ich hab dann zuerst den Insta-Account gehabt und für Freunde fotografiert und dann hat ein Freund gemeint, dass ich das mehr Leuten zeigen soll. Das ist jetzt ungefähr fünf Jahre her. Ich habe relativ schnell gemerkt, dass ich durchaus viele Leute erreiche und etwas bewegen kann. Mit zunehmender Bekanntheit sind die Medien auf mich aufmerksam geworden.
Ich habe dann begonnen, mich sozial zu engagieren. Dann gabs noch mehr medialen Rummel – und jetzt nutz ich das, um die Welt aus meiner Perspektive zu zeigen. Ich bin 1,12 Meter groß und ich sitze. Ich habe die Augenhöhe eines Volksschulkindes. Die Welt erlebe ich ein bisschen wie ein kleiner Abenteurer. Das möchte ich den Leuten auch so vermitteln. So viele hetzen durch die Gegend und haben gar nicht die Zeit, auf Details zu achten. Ich will aufzeigen, wo es Probleme gibt bezüglich Barrierefreiheit aber auch, wo etwas besonders gut funktioniert. Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, nicht nur zu kritisieren.
Betroffene sagen mir: endlich traut sich jemand, den Mund aufzumachen! Und Menschen, die damit gar nichts zu tun haben, bedanken sich, dass sie auf das Thema aufmerksam gemacht werden. Zu mir hat erst kürzlich eine junge Mama gemeint, dass sie nun erst mit dem Kinderwagen sieht, wo überall Barrieren sind. Ich erwarte von den Menschen nicht, dass sie selbst draufkommen. Wenn du das nicht brauchst, dann achtest du nicht drauf.
Ich habe ja eigentlich zwei Insta-Accounts, bei @vienna_wheelchair_view zeig ich mehr meine Eindrücke der Stadt, Gebäude, Sehenswürdigkeiten und Events – und bei @evelynbrezina steht eher Streetfotography im Fokus. Wenn ein Foto besonders gut gelingt, rutscht es auch auf @vienna_wheelchair_view, weil ich dort noch mehr Follower habe. Ich liebe Streetphotography. Zum Beispiel hab ich eben eine Frau bei der Albertina Stiege fotografiert mit einem türkis gemusterten Kleid, die bei einer türkisen Säule vorbeigegangen ist. Das war totaler Zufall, weil sich die Säule alle 30 Sekunden dreht. Diese Momente erzeugen so ein Glücksgefühl bei mir, da zahlt sich das Fotografieren aus.
Mein Vater hat mir schon früh bei gebracht, nicht nur drauf loszuknipsen, sondern nach speziellen Perspektiven zu suchen. Natürlich hilft mir mein niedriges Sitzen dabei auch. Ich versuche, klassische Motive wie den Stephansdom von verschiedenen Blickwinkeln zu fotografieren. So finde ich zum Beispiel Spiegelungen faszinierend, durch Fenster, wenn sich dann Dinge durch Schattenspiele verdoppeln, das macht mir einfach Spaß.
Ja, voriges Jahr waren zwei meiner Fotos im Wien Museum ausgestellt und jetzt in der Ausstellung im Wien Museum mit den Postkarten ist eine interaktive Sache mit meinen Fotos dabei. (Anm.: „Großstadt im Kleinformat“ 04.05 – 24.09.2023)
Ich bin eine Ur-Wienerin in der dritten Generation. Wienerischer geht’s nicht mehr. Von der Ur-Grantlerin bis zum goldenen Wiener Herz ist alles dabei. Ich möchte nirgendwo anders leben. Die Stadt vibriert für mich. Sie ist voller Möglichkeiten. Kulturell ist alles da, für Rollstuhlfahrer genial, weil man zu vieles auf so engem Raum erreichen kann, ohne Probleme. Im Sommer bin ich wahnsinnig gerne mit den Öffis unterwegs. Natürlich nur mit meiner Pflegerin, alleine wäre das zu gefährlich.
Ich bin eine Ur-Wienerin … von der Ur-Grantlerin bis zum goldenen Wiener Herz ist alles dabei.
Evelyn Brezina liebt ihre Stadt
Ich habe schon seit 15 Jahren 24 Stunden Pflegerinnen. Drum bin ich auch so dahinter, dass die endlich fair bezahlt werden und Unterstützung bekommen. Ich bin voll in dem Thema drinnen. Ich selbst kann ohne sie nicht. Ohne sie wäre ich auch fast schon einmal gestorben. Das Gesundheitssystem krankt an allen Ecken und Enden und im Prinzip erhalten uns die 24 Stunden Pflegerinnen aus dem benachbartem Ausland viel vom Gesundheitssystem. Es ist ein Riesen-Thema und mittlerweile war ich schon so oft in den Medien, dass man immer wieder auf mich zurückkommt. Langsam habe ich das Gefühl ich wär schon das Aushängeschild *lacht*.
Es ist meine Autobiographie bis zu meinen Mitte-Zwanzigern ungefähr. Ich habe immer schon gerne geschrieben und wollte meine Geschichte chronologisch für mich selbst erzählen, mir über einiges klar werden, was alles schief gelaufen ist. Ich wollte auch zeigen, dass Menschen mit Behinderungen zum Beispiel als Teenager die selben Träume, Wünsche, Sehnsüchte haben, wie jeder gesunde Mensch. Und ich hab mich auch nach einem Partner gesehnt. Nach meinem ersten Kuss. Nach meinen ersten Erfahrungen. All diese Dinge hab ich im Buch verarbeitet und recht gutes Feedback bekommen. Es ist kein Bestseller. Es war im Eigenverlag, ich musste damals einiges zahlen dafür und hab nie Geld bekommen, aber es ist mir egal. Ich bin froh, dass es doch knappe 800, 900 Leute gelesen haben und wenn der eine oder andere daraus irgendwas gelernt hat, dann freut es mich.
Ich liebe Fremdsprachen, zum Beispiel habe ich begonnen, Spanisch zu lernen. Ich habe außerdem sehr viele Sozialkontakte, vor allem auch durch Social Media, sodass ich teilweise den ganzen Nachmittag damit beschäftigt bin, allen zu antworten und zu updaten, was bei mir los ist. Im August habe ich ein Meeting mit dem Gesundheitssprecher der Grünen, der mich durchs Parlament führt, alles durch Instagram. Am Donnerstag bin ich eingeladen in die Amerikanische Botschaft zur Independance Day Feier. Ich freue mich wahnsinnig drauf. Man kommt durch Social Media mit Leuten in Kontakt, die man im normalen Leben nie getroffen hätte. Menschen, mit denen man gar keine Berührungspunkte gehabt hätte.
Das klingt glaub ich blöd, weil ich so viel quatsche. Aber ich kann sehr gut zuhören! *lacht* ich denke ich bin sehr empathisch und kann mich gut in Situationen hineinversetzen. Das hat mir schon einige Freundschaften eingebracht. Ich habe dadurch schon manchen Menschen helfen können, das ist ein schönes Gefühl. Das gibt meiner Behinderung auch einen Sinn, dass ich auch für andere was tun kann. Mir ist das unglaublich wichtig. Ich war mein ganzes Leben auf Hilfe oder auf den guten Willen von anderen Menschen angewiesen und davon etwas zurückgeben zu können, ist einfach unglaublich schön.
Alles in allem ist Wien schon eine gute Rollstuhlstadt. Dafür, dass es eine historische Stadt ist mit vielen alten Gebäuden, die nicht konzipiert sind für Rollstühle, hat man es gut gelöst. Aber was das Schulsystem, das Gesundheitssystem, die Barrierefreiheit und Chancengleichheit am Arbeitsmarkt betrifft – da ist vieles nach wie vor nicht gegeben. Wie ich damals meine Matura gemacht hab, habe ich danach einen Lehrgang für Versicherungskaufleute gemacht. Ich wollte in einer Versicherung arbeiten und mich bei jeder Versicherung in Wien beworben – genommen wurde ich nirgendwo. Ich wurde nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.
Wien ist eine gute Rollstuhlstadt … aber was das Schulsystem, Gesundheitssystem, die Barrierefreiheit und Chancengleichheit am Arbeitsmarkt betrifft – da ist vieles nach wie vor nicht gegeben.
Evelyn Brezina
Es gibt so etwas, das nennt sich Ausgleichszahlung (Anm. was das genau ist, kannst du hier nachlesen) – wenn du behinderte Menschen nicht einstellst, musst du Strafe zahlen. Das ist immer noch Gang und Gäbe, dass lieber gezahlt wird, anstatt einem behinderten Menschen die Chance zu geben, ein Leben zu führen, indem man sich selbst erhalten kann. Ich hab so viel Selbstwertgefühl getankt in den fünf Jahren, in denen ich berufstätig war, weil ich mich als steuerzahlendes Mitglied der Gesellschaft gefühlt habe, welches endlich etwas zurückgeben kann. Dieses Gefühl ist unbezahlbar.
Und ja, man muss als behinderter Mensch trotzdem mehr leisten, sich immer wieder beweisen. Über körperliche Grenzen hinweggehen, um zeigen zu können, ich schaff das genauso wie jeder Gesunde. Das ist ein sehr zweischneidiges Schwert, dass ich für mich nicht 100 Prozent gut gelöst habe. Ich war in den Jahren, wo ich berufstätig war, unendlich glücklich und dankbar, aber ich habe meinem Körper dabei so viel abverlangt, dass mein Verfall viel schneller war, als er eigentlich hätte sein müssen.
Mein allergrößter Wunsch wäre, dass Menschen sich mehr trauen, auf Menschen mit Behinderungen zuzugehen, den Dialog zu suchen. Ich kann es nicht leiden, wenn mich wer blöd angafft. Es wäre mir viel lieber, wenn man auf mich zukommt und mich ganz offen fragt. Ich hatte schon entzückende Begegnungen mit Eltern und Kindern, wo die Kinder die verrücktesten Fragen stellten: Warum hast du so einen großen Kopf und keinen Hals? Warum hast du so kleine Füße?
Mein allergrößter Wunsch wäre, dass Menschen sich mehr trauen, auf Menschen mit Behinderungen zuzugehen.
Evelyn Brezina
Eltern, die darauf positiv reagieren und die Kinder nicht wegzerren, das ist so ein schönes Gefühl. Wenn man Kindern mitgeben kann, das anders-sein nichts ist, was ausgegrenzt gehört. Ich mag das Wort Inklusion auch per se nicht. Ich finde es schade, dass es überhaupt notwendig ist, dass es das Wort geben muss. Kinder nehmen sich auch kein Blatt vor den Mund. Mir wäre es wichtig, dass Menschen mehr mit offenen Augen und einem offen Herzen durch die Welt gehen.
Wenn du mehr über die Glasknochenkrankheit wissen willst bzw. betroffene Menschen unterstützen willst, schau am besten auf der Website der Selbsthilfegruppe OIA – Osteogenesis Imperfecta Austria vorbei.
In unser Serie “Held:in des Monats” berichten wir regelmäßig über besondere Menschen mit einer einzigartigen Geschichte. Alle biserigen Held:innen des Monats findest du hier aufgelistet:
Helmuth Stöber von VOI fesch: “Geht um Talent, nicht um Behinderung”
Magdalena von Veganimals: “Wir essen hier niemanden!”
Schmuck aus Wiener Street Art: Birdlys Upcycling-Kunst
Andi Goldberger: “Jeder schreibt seine eigene Heldengeschichte!”
Sophie Tschannett von Muschikraft: “Der Erfolg kam unerwartet!”
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Aufmacherfoto: (c) heldenderfreizeit
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