Raphaela Edelbauer ist nach ihrem hochkonzeptionellen AI-Epos DAVE (hier unsere Rezension zum Österreichischen Buchpreis-Siegertitel 2021) mit einem neuen Roman zurück und auch dieser gehört in die Kategoie “High-Concept”. Obwohl sich Die Inkommensurablen ins Gewand eines historischen Romans hüllt, wäre diese Beschreibung zu kurz gegriffen.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schrifsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
23. März 2023: Der junge Pferdeknecht Hans aus Tirol fährt zum ersten Mal in seinem Leben nach Wien und er hätte sich dafür keinen im negativen Sinne geschichtsträchtigeren Augenblick aussuchen können. Es ist der Vorabend des ersten Weltkriegs. Bald wird das Ultimatum des deutschen Kaisers ablaufen und allerorts machen sich Kriegseuphorie bzw. Weltuntergangsstimmung breit. Eigentlich will Hans zu einer berühmten Psychoanalytikerin in Therapie gehen, jedoch entwickelt sich sein erster Tag in Wien zur philosophischen, emotionalen und scheinbar übersinnlichen Grenzerfahrung.
Die Handlung setzt im Moment größtmöglicher Beschleunigung ein, jenen Stunden, die den Geist jedes Menschen im Kaiserreich zum Rasen bringen mussten. Der Krieg steht vor der Tür und alles Sichergeglaubte, alle Regeln des Zusammenlebens, des Denkens scheinen auf einmal ihre Wirkungskraft verloren zu haben. Dieser Moment des Einstiegs ist für unseren Protagonisten ein doppelter Schock. Bei seiner Ankunft erlebt er zum ersten Mal den Trubel, die Sprachvielfalt und gesellschaftlichen Extreme Wiens. Am Südbahnhof kommen alle Schichten zusammen, vermischen sich und überschwappen Hans. Beinahe sein ganzes Leben hat er als Knecht fern des großstädtischen Treibens verbracht, hat von der Welt bloß durch Zeitungen und Bücher erfahren. Den Wandel, der für die Wiener:innen ein Bruch mit dem Bekannten darstellt, erlebt Hans im Zeitraffer.
Aus dem Wundern, der Reorganisation seines Weltbildes, wird Hans das ganze Buch lang nicht mehr herauskommen. Einzig für ihn erscheinen die Ereignisse des Romans wie ein Anfang, ein ewiger Auftakt zu großer Erkenntnis. Für die anderen Figuren ist es ein Ende – das Ende des Friedens, der Studienzeit, der Kunst, des Reichs, des Lebens. So pendelt auch die Wahrnehmung der Lesenden zwischen Faszination durch Hans´ Augen über die furchterregende Aufbruchstimmung und der Tragik des eigenen geschichtlichen Wissens hin und her.
Wir wissen, wohin dieser Krieg führt, in welchen Horror. Da philosophieren Figuren von der Reinheit der deutschen Seele und von der Schwäche des Slawen, den man nun endlich unterwerfen muss, von der Verdorbenheit der Franzosen, und tun dies mit der allergrößten Arroganz und Selbstverständlichkeit. Doch dem gegenüber, in Hans, Klara und Adam, ihren Bekannten und ihrer jungen Welt zeigen sich die Keime einer unterschütterlichen Hoffnung, des Glaubens an einen Fortschritt und eine Weltordnung, die nicht aus Gewalt und Tod besteht. Die Inkommensurablen ist ein langer Schritt über die Schwelle, ein Zeitlupenmoment des kommenden Untergangs, jenes Augenblicks, da man entgegen aller Schwerkraft noch hofft, den Sturz abzufangen.
Hans´ Reise durch das Wien in Endzeitstimmung entwickelt sich vom einfachen Wunsch nach Therapie zu einer ziellosen Jagd nach Erkenntnissen. Hans will lernen, will erfahren, will, dass ihm alles erklärt wird und die Figuren um ihn wollen sich und ihre Weltsicht mitteilen. So breiten sich in diesem Roman weitere Expositionsebenen aus, die einem so weit eröffnet werden, bis man das Gefühl hat, sie zu überblicken, doch verschwinden sie immer irgendwann hinter der Erdkrümmung, die Szenen reißen ab. Irgendetwas geschieht, die Zeit bleibt nicht stehen und die Protagonisten hasten weiter.
Die Inkommensurablen ist ein Buch abgerissener Szenen. Die Handlung selbst, das Mysterium, das die Protagonisten vorantreibt, ist weitgehend theoretischer Unterbau, ungreifbar und vage. Ein Traum von der Entschlüsselung eines Traumes. Klara, Hans und Adam glauben bestimmte übersinnliche Fähigkeiten zu besitzen: Gedankenübertragung, Erinnerungen aus der Vergangenheit und die Herrschaft über einen Traum, doch diese zu erklären, oder ihre Echtheit zu beweisen ist unmöglich, und das ist der Punkt. Alles Philosophieren, alle Wissenschaft (ob Geistes- oder Natur-) zerrinnt ihnen zwischen den Fingern, während der nahende Krieg sie vor sich her treibt. Kein Gedanke kann zuende gedacht werden. Immer löst sich das Gespräch im Streit auf oder jemand attackiert sie mit dem Messer oder es kommt zum Saalsturm. Die Zeit der Ruhe, des gemäßigten wohldurchdachten Gedankens ist vorbei.
Sprachlich spiegelt sich die Entgrenzung und gleichzeitige Fokussierung der Welt wieder. Raphaela Edelbauer breitet ihre Sätze kunstvoll und weit aus, verschlingt Fachbegriffe miteinander zu komplexen Gedankenschlangen und lässt sie mit verkünstlicht historischem Vokabular kollidieren. Authentizität (genau wie logische Glaubhaftigkeit der Abläufe jedes einzelnen Handlungsschritts) ist aber nicht das Ziel, sondern nur genügender Anschein, denn nichts in diesem Roman ist ohne direkte Funktion. Die großen Worte, die großen Gedanken, denen aber nie erlaubt wird, ihr Ziel ganz zu erreichen, ziehen mit der überbordenen Sprache und Wortwahl an einem Strang.
Dass da ein Charakter des öfteren auf eine Art und Weise spricht, die im historischen Kontext unwahrscheinlich ist, bleibt Nebensache. Historische Authentizität ist nicht der Punkt, sondern nur ein Gerüst, dass den Roman wenn nötig stützt. Die Inkommensurablen ist kein historischer Roman, sondern ein Roman mit historischem Unterbau. Es handelt sich um einen hochkonstrierten Roman, keinen überkonstruierten, denn überkonstruiert wäre er nur, wenn er sein Konstrukt zu verstecken versucht hätte.
“High-Concept”, wie zu Beginn erwähnt, bedeutet, dass alles in diesem Buch seine Funktion hat und diese Funktion auch nicht versteckt. Das führt dazu, dass das Setting eben eine Kulisse ist, wenn auch eine detaillierte und lebhafte. Es bedeutet auch, dass die Charaktere ihre Rollen zu erfüllen haben, dass sie Figuren sind, die jeweils bestimmte Standpunkte und Perspektiven repräsentieren. Mit einigen Rückblenden werden sie stimmig, aber simpel an ihre angedachten Positionen gestellt und von dort erfüllen sie ihre Funktionen.
Die langen Monologe und theoretischen Erklärungen, aus denen sich die Szenen des Romans zusammensetzen, gebrochen von kurzen Spurts des Geschehens, sind der Kern des Buches. Sie stehen vor der Handlung und den Charakteren und sie halten das Interesse gut, bis sie sich gegen Ende des Romans ein bis zweimal doch zu sehr über die Grenzen der Glaubwürdigkeit hinausschrauben. Im hinteren Bereich hätten gerne ein paar Sätze gestrafft und einige Monologe mehr dialogisiert werden können, um ihr volles Potential, die Figurendynamik betreffend, auszuschöpfen. Vor allem anderen gilt das für den finalen Monolog, der sozusagen die Auflösung bildet, den Twist und die erlösende Erkenntnis noch einmal mit einer neuen, zynischen, fast sadistischen Perspektive versieht.
Dass dieses schwere Buch noch einmal in der Lage ist, einem ein neues Loch in den Magen zu reißen, ist bemerkenswert, doch in der Ausführung manchmal etwas weit getrieben, etwas zu explizit. Die Notwendigkeit eines solchen Endes steht außer Frage, schon allein aus historischer Sicht, aber mehr Offenheit, die Fortführung der Ausfransung der einzelnen Szenen oder mehr Vertrauen an die Leserschaft, die Botschaften, Metaphern und das doch sichtbare Konstrukt des Romans zu verstehen, hätte dem Ganzen noch größeren Nachdruck verliehen. Allein schon der Titel (Inkommensurabel: unvergleichbar, keinen gemeinsamen Referenzrahmen habend etc.) gibt Hinweis auf vieles und seine Erklärung im Buch tut den Rest. Diese in den Lesenden über das Buch hinweg anwachsende Verständis hätte man auch nach hinten raus für sich wirken lassen können.
Die Inkommensurablen ist ein schwerer, verkopfter Roman, der einen aber mit großartig kunstvoller und (funktionell) zielgerichteter Sprache, hochinteressanten Gedanken, einem wunderschön ausgeführten Konstrukt und einer aktuell wie historisch wichtigen Perspektive belohnt. Eine Empfehlung für jeden, der mit den richtigen Erwartungen und einigem literarischen Selbstvertrauen in die Lektüre geht.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.