Die Bienen und das Unsichtbare ist das aktuellste Buch des frisch gebackenen Büchner Preisträgers Clemens J. Setz. Dabei handelt es sich aber nicht um einen Roman, sondern um eine teils dokumentarische, teils essayistische Sammlung von Anekdoten, die alle ein Thema gemein haben: erfundene oder gefundene Sprache. In unserer Rezension erfährst du mehr.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
22. November 2021: Was ist Sprache für jemanden, der sie weder verstehen noch sich ihrer bedienen kann? Was ist eine Sprache, die nicht natürlich über Jahrtausende gewachsen ist, sondern im Kopf eines Einzelnen entstanden? Was ist Sprache überhaupt und was kann sie bewirken? Ist sie Werkzeug oder Waffe? Ist sie was uns zu Menschen macht oder ist sie der einzige Beweis für unsere Anwesenheit? Diesen Fragen und mehr widmet sich Clemens J. Setz in Die Bienen und das Unsichtbare.
Im Kern steht die Frage, ob es die Sprache ist, die uns zum Menschen macht und ob man den Menschen (die Bedeutung der Menschlichkeit) mithilfe von Sprache beeinflussen kann – und davon weiterführend die Natur der Welt. Sprache ist für gewöhnlich etwas natürlich Gewachsenes. Von den ersten kommunikativen Lauten steinzeitlicher Menschen bis hin zu unserem modernen halbdigitalisierten Sprachgebrauch waren unsere Sprachen einer ständigen Evolution unterworfen. Gleichzeitig versuchten aber auch immer wieder Personen oder Gruppen künstliche, konstruierte Sprachen zu entwerfen.
Meist waren diese Sprachen als Weltsprachen, Allgemeinsprachen gedacht und das Weltbild (oder die gewünschte Utopie) der Erfinder ließ sich aus ihrem Aufbau und ihrer Anwendung lesen. Einige dieser Erfinder und ihre Sprachen, sowie die Auswirkungen und den modernen Widerhall, den sie erzeugten, stellt uns Clemens J. Setz vor. Dabei sind die Anekdoten in Die Bienen und das Unsichtbare nicht bloß Nacherzählungen oder reine Faktensammlungen – es sind philosophische Reflexionen über die Sprachen, ihren Gebrauch und ihre Schöpfer, vermischt mit thematisch verwandten Episoden aus dem Leben und der Recherche des Autors, in denen sich die behandelten Sprachen und deren Verständnis im Kontext der Welt spiegeln.
Perfektes Beispiel dafür ist die gleich zu Beginn des Buches behandelte Sprache der Bliss symbolics. Noch bevor wir überhaupt wirklich erfahren, was Bliss symbolics überhaupt sind und wie sie funktionieren, werden sie für uns durch einige kurze Anekdoten, das Vorwort und die Lebensgeschichte des Erfinders in einen poetischen Kontext gesetzt. So erleben wir also das Entstehen der Sprache vor unseren Augen mit. Erst dann können wir erkennen, was sie überhaupt darstellt. Intention kommt vor Funktion. Darauf folgt das Echo, der Effekt, den die Sprache auf die Gegenwart ausübt und das Ende der Lebensgeschichte des Erfinders.
Bliss Symbole sind eine rein geschriebene Sprache, deren Erfinder – ein Konzentrationslager-Überlebender – mit dem Verbannen aller Zweideutigkeit und allen Interpretationsspielraums und des gesprochenen Wortes als Manipulation der Massen die Welt retten wollte.
Die Sprache fand aber kaum Anklang, bis sie in den 70ern zur Sprachbildung schwer behinderter Menschen, von denen man glaubte, sie seien überhaupt nicht zu Sprache fähig, wiederentdeckt wurde. Setz erzählt von den Verwendern der Sprache, von den einst für stumm und schwachsinnig gehaltenen, die sich plötzlich ausdrücken können.
Er erzählt von Poesie, die diese Menschen in Bliss Symbolen verfassen und von ihrem Blick auf die Welt. Davon ausgehend macht Setz einige Exkurse in Bereiche, wie die Behandlung beeinträchtiger Menschen, Komapatienten und in die Erzählung eigener Erlebnisse. Dieses in Kontext setzten des Kerns des Erzählten eröffnet breite emotionale Räume, eine Fülle an Überlegungsansätzen und Tiefe.
Dieses Muster des schrittweisen Öffnens der Sprachen, des poetische Sezierens der Gesamtkontexte, das Emotionale, Philosophische und Menschliche im Erfinden von Sprachen und ihre Wirkung auf die Welt zieht sich durch das ganze Buch. Immer wieder greift Setz sich selbst vor, erwähnt scheinbar beiläufig Sprachen und Personen, setzt sie ins Verhältnis mit literarischen Zitaten und ermöglicht uns durch den Vorgriff, wenn wir schließlich wirklich zu diesen Themen kommen, tiefere Einsicht. Dabei wirkt das Buch niemals konstruiert. Die Themen fließen organisch ineinander über und so wächst der Text fast wie eine natürliche Sprache.
Clemens J. Setz erzählt uns in seinem Buch Die Bienen und das Unsichtbare von der Sprache, vom Willen des Menschen sie zu beherrschen, der dazu führt, selbst die Sprache (eine Universalsprache) erschaffen zu wollen. Ohne überkonstruierte Interpretationen oder überemotionale Moralisierung findet der Autor in seinen wahren Geschichten und theoretischen Erläuterungen das Poetische. Er macht keine Poesie – er findet sie. Ein Buch, das ich allen Sprachinteressierten an Herz legen kann und auch jenen, die nicht nur gerne Neues lernen, sondern auch dazu geneigt sind, ihre Gedanken und Emotionen gleichzeitig zu öffnen.
Die Bienen und das Unsichtbare (Suhrkamp) von Clemens J. Setz ist um 24,00 Euro überall, wo es Bücher gibt erhältlich.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.