Sindelars Leben als Comicgeschichte. Warum erst ein Berliner kommen muss, um mir das Idol meiner Favoritner Nachbarin zu erklären.
von Christoph König
Christoph, ist das dein Opa? Das Foto, das wie ein Präsidenten-Bild über dem Türrahmen in meinem Arbeitszimmer thront, hat schon für einige Verwirrung gesorgt. Es zeigt ein schwarz-weiß Portrait von einem Mann mit spitzer Nase, abstehenden Ohren, Geheimratsecken und stark zurückgegeelten Haaren.
Der Ehrenplatz ist höchst angebracht! Denn es handelt sich um die Kopie einer unterschriebenen Autogrammkarte von Matthias Sindelar. Dass sie mir ausgerechnet ein eingefleischter Rapid-Fan geschenkt hat, zeigt wie groß auch sein Respekt vor Österreichs genialstem Kicker aller Zeiten ist. Immerhin war „der Papierene“, wie der Star unseres Wunderteams wegen seiner filigranen Spielweise genannt wurde, der Ur-Austrianer schlechthin.
Flucht vor der Familien-Krise
Als Kind hatte ich sogar einmal ein Original-Autogramm in Händen. Ich war von meiner Mutter wieder einmal zum Champions-League schauen zu meiner Nachbarin Frau Wagner geschickt worden. Als einziger Sportinteressierter der Familie konnte ich mir so eine Streiterei ersparen. Denn am anderen Kanal lief der Hauptabendfilm. Die tägliche 20 Uhr-Krise reichte mir eh schon. Schuld war dieser verdammte ORF! Jahrelang hat er den Kurzsport zeitgleich mit dem Kulturjournal ausgestrahlt.
Welch Segen als endlich ein Videorecorder ins Haus kam und ich meiner Künstlermama das FS2-Programm aufzeichnen konnte. Als ich also wieder einmal zu Frau Wagner verbannt über einen unfähigen Querpass des FC Bayern München schimpfte, kramte die betagte Dame ein Bildchen aus der Schublade: „Schau Christoph, das ist der Sindelar, der hat noch kicken können!“
Favoritner Denkmalschutz
Irgendwie begleitete mich der Kerl überall hin! Meine Wohnung liegt heute ausgerechnet in jenem Block im zehnten Wiener Gemeindebezirk in der auch Sindelar einmal gehaust hat. Diese steht heute leer. Die Fenster sind mit alten Brettern vernagelt. Denkmalschutz auf Favoritnerisch! Immer, wenn ein Sportinteressierter vor meiner Wohnung steht, zeige ich drauf und sage ganz beiläufig: „Und übrigens, dort hat der Sindelar gewohnt.“ Dass mich mein Weg zur Arbeit täglich mit der Bim an einer anderen Sindelar-Wohnung vorbeiführte, konnte dann langsam kein Zufall mehr sein.
Schwere Kost, leicht verpackt
Wie sehr habe ich mich daher gefreut, ein Rezensionsexemplar von „Der Papierene. Das Leben des Fußballstars Matthias Sindelar“ in Händen zu halten. Der erste Band behandelt sein Leben von 1903 bis 1933. Ja, ich habe schon einiges über Sindelars Heldentaten und seinen mysteriösen Tod gelesen – aber das Werk von Sascha Dreier ist etwas Besonderes.
Die Thematik (die Biografie eines Fußballstars, der für den Judenverein Austria spielt und damit den Hass der aufstrebenden Nationalsozialisten auf sich zieht) schreit ja eher nach einer Verarbeitung in einem dicken Geschichtswälzer – zumal Sindelars tatsächliches Verhältnis zu den Nazis durchaus kritisch hinterfragt werden darf.
Und da kommt dieser Dreier mit einer Graphic Novel, also einem Comicbuch daher. Frech! Aber der Mut hat sich ausgezahlt. Schon nach wenigen Seiten wird man wie mit einer Zeitmaschine in das Geschehen gesaugt. Klar, die Dialoge sind fiktiv, aber werden so in wahre Geschehnisse eingebettet, dass man denkt: Ja, genau so könnte es wirklich gewesen sein.
Das Schmieranski-Team
Nicht nur einmal entkommt einem ein Schmunzeln über die witzigen Zeichnungen und doch schafft es das Buch die tragischen Ereignisse dieser Zeit mit der nötigen Dramatik aufzuzeigen. Sehr gelungen ist die Darstellung des sturen Nationaltrainers Hugo Meisel. Köstlich die Szene als er den Journalisten mit denen er ständig auf Kriegsfuß ist, einen Zettel mit der Aufstellung vor die Füße und den legendären Satz an den Kopf wirft: „Da habts euer Schmiranski-Team!“ Wenn alle Historiker so spannend erzählen könnten wie Sascha Dreier, hätte mir mein Geschichte-Studium noch mehr Spaß gemacht.
Eine halbe Sache
Nach ein paar Stunden habe ich den dicken Wälzer von vorn bis hinten durch. Dazwischen staune ich immer wieder wie viel Liebe zum Detail und Recherchearbeit in dem 206-Seiten-Buch steckt. Plötzlich ist es aus. Bitter: Weil aus dem geplanten zweiten Band offenbar nichts wurde. Verdammt! Ich hätte gar nicht erwarten können, wie Dreier Sindelars rätselhaften Tod erklärt. Bis heute weiß ja keiner, wie Sindelar wirklich ums Leben kam. War es ein Unfall oder ein vertuschter Mord der Nazis? Dass erst ein Berliner kommen muss, um die aufregende Geschichte des besten Wiener Fußballers spannend aufzubereiten, finde ich als „Ösi“ aber schon ein bisschen ärgerlich.
Interessantes Interview mit Sascha Dreier vom rbb:
Titel: Der Papierene
Autor: Sascha Dreier
Verlag: Ueberreuter, 2009
Seiten: 206
Weitere Titel: Sascha Dreier, Die 90. Minute. Dramatische Schlussphasen der Fußballgeschichte, Tropen Verlag 2006
Wolfgang Weisgram, Im Inneren der Haut. Das Leben des Fußballspielers Matthias Sindelar, 2011, 14,90 Euro bei Egoth
Fazit: Auch, wenn der Vergleich auf den ersten Blick ein bisschen blöd wirkt. Dieses Buch zu lesen, ist ein bisschen wie Assassins-Creed zu spielen. In beiden Fällen gilt: Hier wird Geschichte höchst unterhaltsam verpackt. Und natürlich ist auch einiges fiktiv und nicht alles historisch korrekt. Aber das macht nichts, denn eine Graphik Novel soll Spaß machen. Und das tut dieser schöne Comicband auf jeden Fall.
Fotos: heldenderfreizeit.com
Der Chefredakteur der Helden der Freizeit hat das Onlinemagazin 2016 ins Leben gerufen und ist seit 2000 als Sportjournalist im Einsatz. Bei heldenderfreizeit.com ist er spezialisiert auf actiongeladene Outdoor-Aktivitäten, Ausflüge, Videos, Spiele, Filme, Serien und Social Media.