Christoph Ransmayr ist einer der wichtigsten und einflussreichsten Schriftsteller Österreichs. Aber Ransmayr ist bei Gott kein Schnellschreiber. Es vergehen von Roman zu Roman schon einmal 5 bis 10 Jahre. Wenn also ein neues Buch erscheint ist das jedes Mal ein Event und da musste ich mich natürlich sofort auf Der Fallmeister (S. Fischer) stürzen.
Eine Rezension von Peter Marius Huemer.
Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
23. April 2021: Der Fallmeister ist ein Roman des Wassers und dessen unaufhaltsamen Laufes. Alles Wasser mündet ins Meer und alles Leben in der Zukunft an Bord einer unausweichlichen Gegenwart. Aber so funktioniert der Geist des Menschen nicht. In harten Zeiten wünscht er sich die ach so schöne Vergangenheit zur Zukunft. Dies ist der Widerspruch im Herzen des Romans. Der Mensch lebt vom Wasser, von seinem Lauf, von seinem Streben in die Zukunft. Er lebt nur mit der Zeit und ihrem Vorwärtsdrang. Dennoch will er sich gegen sie stemmen, ihre Strömung umkehren, und dieses Bestreben mündet im Töten, dem Zerfall, der Dekonstruktion.
In der nicht so fernen Zukunft ist Trinkwasser der begehrteste Rohstoff. Strom gibt es genug, Öl wird nicht mehr gebraucht, aber trinken müssen die Menschen immer. Europa und die USA sind in ein Geflecht tausender Zwergstaaten zerfallen, die sich stetig bekriegen und von Xenophobie und Ultranationalismus zerfressen werden. Aber die eigentlichen Herrscher der Welt sind die Wasser-Syndikate. Im Verlauf des Weißen Flusses (einer fiktionalisierten Donau) befindet sich ein gewaltiger Wasserfall und Herr über das Schleusensystem rund um den Fall ist ein Fallmeister – der Vater des Protagonisten. Als der Fallmeister mit Absicht einen Bootsunfall mit 5 Todesopfern auslöst und sich anschließend selbst in den Wasserfall stürzt, kehrt der Protagonist, der als Hydrotechniker die Welt bereist, zurück in die heimische Grafschaft Bandon.
Ransmayr schafft es in Der Fallmeister, Erinnerungen und Zeitebenen zu vermischen und zu verweben, bis es scheinbar keine Gegenwart mehr gibt. Der Roman beginnt mit dem Mord, zieht sich zurück in die Kindheit, springt nach vorn zum Selbstmord des Vaters, wieder zurück und permutiert dieses Rad stetig fort. Dabei ist gerade der Hass des Fallmeisters auf die Gegenwart und sein Verlangen nach einer scheinbar besseren Zeit Auslöser der Ereignisse.
Dass Ransmayrs Protagonist stetig in vielem den gleichen Hass auf die Gegenwart und die gleiche Rückwärtsgewandtheit wiederfindet und gleichzeitig im Roman keine echte Gegenwart zulässt, ist ein Kunststück auf mehreren Ebenen. So sieht er den Gegenwartshass und die Fehlschüsse, die daraus folgen, nicht bloß im Fallmeister, sondern auch in der Geschichte Kambodias, den Gräueltaten der Roten Khmer und der vom Autor erfundenen Weißen Khmer, deren Ideologie sich wiederum in der jährlichen Stromumkehr eines großen Flusses spiegelt und begründet. Er findet ihn in den Wappen und Flaggen und Namen der winzigen Staaten Europas und ihrer Selbstverherrlichung. Er findet sie überall.
Und anstatt eine Zukunft zu imaginieren, verlieren sich alle im stetigen Blick zurück. So verfährt Ransmayr mit nahezu allen Motiven, von denen das Genannte aber das Stärkste bleibt. Er zieht Bögen, malt Kreise in den Sand, die sich immer irgendwann schließen. Nicht immer auf überraschende, aber auf konsequente Weise. So baut sich eine logische Welt, der Ransmayr aber immer mystische, in der Menschlichkeit, der Irrationalität verwurzelte Positionen entgegenstellt.
Der Lauf der Zeit, die unaufhaltsame Zukunft und die Torheit und Gefährlichkeit darin, sich planlos gegen sie zu stemmen, sie zu verzögern oder bloß zu leugnen zieht sich durch fast alle von Ransmayrs Werke. Vom stetigen Wandel, der Metamorphose, die er in Die Letzte Welt beschwört, über das nach dem Krieg in die Steinzeit und zur ewigen Buße gezwungene Dorf Moor in Morbus Kitahara, den Kaiser von China, der mithilfe des Uhrmachers Cox die Zeit selbst beherrschen möchte, erreichen wir in Der Fallmeister nun eine Welt, deren Gegenwart so schmerzhaft ist, dass man beinahe den allgegenwärtigen Willen, die Zeit zurück zu drehen (wenn nötig mit Gewalt) verstehen könnte. Wüsste man nicht, wozu es führt. So stehen die Argumente, die Episoden und Emotionen des Romans nicht allein. Sondern sie fußen auf einem jahrzehntelangen Aufbau, der das Thema in immer wieder neue Kontexte hüllt und immer neu ausverhandelt.
Sprachlich bleibt sich Ransmayr treu. Verschlungene Sätze und große Worte. Große Gesten, die jedem Ereignis mächtige Bedeutung zuweisen und nicht vor scheinbar unkonzentrierten Abweichungen zurückschrecken. Das ist bisweilen und war schon immer anstrengend. Das erzeugt aber, erst auf diese Weise, den Sog, den die darin gebetteten Gedanken brauchen, um sich festzusetzen. Anders als in früheren Werken braucht aber die Sprache eine Weile, um in Fahrt zu kommen. Gerade am Anfang des Romans hat man das Gefühl, so manche Verschwurbelung sei nur da, um den Stil nicht zu brechen und so manche große Geste wirkt hohl.
Erst als sich im dritten Kapitel die ersten Kreise zu schließen beginnen, findet der an Kitsch grenzende Pathos vom Anfang seine Berechtigung. Es ist kein Zufall, dass der Roman, als sich die Handlung an den Mekong nach Kambodia verlegt, seine Kraft gewinnt. Die Beschreibungen von Geschichte und Kultur und die Rückbezüge aus exotischerem Kontext erlauben es der Sprache, sich zu entfalten. Wo Ransmayr Bekanntes in Worte fasst, die einem das Gefühl geben, sich gar nicht in der eigenen Welt zu befinden, erzeugt dies ein Gefühl der Fremdheit, und das spießt sich solange sich die Handlung nahe der eigenen Gegenwart in Österreich vollzieht mit der Tristesse der erzählten Welt. Sobald aber Namen unbekannter Orte und fremder Sprachen ins Spiel kommen und sich mit dem Bekannten vermengen, Bedeutungen über diese Grenze hinwegverbunden werden, scheint jedes Wort an der richtigen Stelle zu stehen.
Der Fallmeister ist ein trauriges und schmerzhaftes Buch von sprachlicher Schönheit, die beinahe abstoßend wirkt, bevor sie sich im weiteren Verlauf findet und alles davor Gelesene retroaktiv rechtfertigt. Die Vision einer zerfallenen Welt, aus der Flucht (nach vorne wie nach hinten) die einzige Möglichkeit zu sein scheint, lässt einen nicht so schnell wieder los. Sie zwingt einen sich unbequemen Gedanken zu stellen – nicht auf schulmeisterliche Weise und ohne Richtiges oder Falsches vorweg zu deklarieren. Nicht Ransmayrs größtes Werk aber, ein großes nichtsdestotrotzt.
Der Fallmeister von Christoph Ransmayr ist seit 24. März 2021 im Buchhandel und Online erhältlich!
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Alle Fotos (c) S.Fischer, heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.