Der Junge, der sich seinen bitteren Widerständen widersetzte und zum gefeierten Autor aufsteigt. Die Geschichte von Charles Dickens David Copperfield ist bekannt. Mehrmals verfilmt wurde sie auch. In den bewährten Händen von Regisseur Armando Iannucci bekommt sie nun einen bunten, optimistischeren Anstrich. Unser Review zum Kinostart.
von Susanne Gottlieb
24. September 2020: Was? Noch eine neue Verfilmung von David Copperfield? Gibt es nicht schon genug? Ja und nein. Natürlich sollte man inzwischen mit den groben Zügen vertraut sein. Der Waise David, der von seinem bösen Stiefvater in eine Fabrik gesteckt wird, dieser entfliehen kann, bei seiner Tante unterkommt, und dieser hilft einen Betrüger zu stellen, während er gleichzeitig beginnt als Schriftsteller zu arbeiten – alles irgendwo schon mal gesehen und gelesen. Aber Iannucci wäre nicht er selbst, wenn er seiner The Personal History of David Copperfield nicht ein paar neue Aspekte und Anreize verleihen würde. David Copperfield, die Komödie? Lest selbst.
Der kleine David (Dev Patel als Erwachsener) wächst zunächst als behütetes Kind bei seiner alleinerziehenden Mutter (Morfydd Clark) auf, und wird vom Personal, unter anderem der resoluten Peggotty (Daisy May Cooper), vergöttert. Aber mit der Idylle ist es bald vorbei. Davids Mutter lernt den boshaften Darren Murdstone (Darren Boyd) kennen, den sie ehelicht und der auch seine ebenfalls hartherzige Schwester Jane Murdstone (Gwendolyn Christie) mit ins Haus bringt. Als Davids Mutter stirbt, ist für David kein Platz mehr. Er wird nach London in die Fabrik verfrachtet.
Der Rest sind die altbekannten Etappen zum gesellschaftlichen Aufstieg und wohlsituierten glücklichen Ende. Das ärmliche Leben in London mit der Familie des Trickbetrügers Mr. Micawber (Peter Capaldi). Die Flucht aus der Fabrik und das Treffen mit seiner Tante Betsey Trotwood (Tilda Swinton) und ihres Mitbewohners Mr. Dick (Hugh Laurie). Die Schuljahre mit dem draufgängerischen Kumpanen James Steerforth (Aneurin Barnard). Das Werben um die naive Dora Spenlow (ebenfalls Morfydd Clark). Die Freundschaft zu Agnes Wickfield (Rosalind Eleazar). Der Betrug des zwielichtigen Uriah Heep (Ben Wishaw). Das Drama um Ham (Anthony Welsh) und Emily (Aimee Kelly).
Und doch, wer die Romanvorlage kennt, der wird erkennen, dass sich nicht alles sich so abspielt wie man sich erinnert. Es ist eine Neuinterpretation auf sämtlichen Ebenen.
Charles Dickens war ein Ankläger seiner Zeit. Geboren inmitten der Industriellen Revolution, erlebte er Ausbeutung, Kinderarbeit, Armut und gierige Industrielle. Das Volksleben, insbesondere die harte Situation der unteren Klassen, wurden zum Hauptmotiv seiner Romane. Er wollte das Gewissen seiner Zeit wachrütteln und den Weg für soziale Reformen ebnen. Diese scharfen Beobachtungen waren einer der Gründe, warum sein Werk heute noch so nachklingt.
Wie passt jemand wie der schottische Regisseur Armando Iannucci, der eher für seinen feinen Humor bekannt ist, in diese Gleichung? Zunächst, komplett humorbefreit war Dickens nie. Zum anderen, Iannucci hat mit The Death of Stalin bereits bewiesen, dass er einen einzigartig unterhaltsamen, aber auch gezielt kritischen Blick auf das Ausgangsmaterial werfen kann. Wer den Tod Stalins und den daraus folgenden Kampf um die Führung der kommunistischen Partei so unterhaltsam und doch bedrückend inszenieren kann, der kann auch Charles Dickens.
So enthebt Iannucci seinen Copperfield zunächst aus dem düster-bedrückenden Naturalismus vorangegangener Interpretationen und verpasst dem Ganzen mal einen frischen Farbanstrich. Wie ein buntes Bonbonpapier präsentiert sich Davids Welt. Bei Bedarf, um Tumulte und inneren Konflikt auszudrücken, wird die Sättigung schon mal runter gedreht. Eine Welt, die mitunter hart ist, aber in der sich ein Junge wie David Copperfield durch eine positive Einstellung und den Rückhalt von Freunden und Familien hocharbeiten kann. Eine, in der er dieFesseln seiner Herkunft zu durchbrechen wagt. Einfach schön mitanzusehen.
Ebenso adaptiert Iannucci bei manchen Stellen mehr oder weniger geschickt die Handlung, um die gröberen dramatischen Schocker auszubügeln. Elemente, die Dickens bereits in seiner Vorlage angedeutet hat, aber dann verdichtete, um mehr Dramatik zu erzeugen, werden von Iannucci entwirrt. So laufen die Dreiecksbeziehungen zwischen David, Dora und Agnes sowie Ham, Steerforth und Emily anders ab als man sie kennt. Das mag zum Teil für Verwirrung sorgen, aber Iannucci zielt ganz klar darauf ab, seine Figuren nicht zum Spielzeug höhrer dramatischer Mächte zu machen. Er lässt sie eigenständig die besten Lösungen für ihre Probleme wählen und bietet somit den einen oder anderen Toten weniger.
Wovon der Film aber genauso lebt ist sein erklassiges Ensemble. Allrounder Tilda Swinton und die wie immer wunderbaren Peter Capaldi, Hugh Laurie und Benedict Wong begeistern in exzentrischen Nebenrollen. Dev Patel beweist als flapsiger, enthusiastischer David Copperfiel erneut, warum er seit seinem Durchbruch mit Slumdog Millionaire zu den beständigsten Schauspielern seiner Generation gehört. Und dann ist da noch das gesamte Casting. Der Film ist komplett farbenblind besetzt. Schwarze, weiße, indische, asiatische Schauspieler agieren in den unterschiedlichsten Rollen und Funktionen. Verwandtschaftsverhältnisse sind ebenso nicht biologisch an Ethnien gebunden. Das macht den Film zu einem der ersten dieser Art und einen Vorreiter in Sachen Inklusion.
The Personal History of David Copperfield ist eine optimistischere Version der Vorlage und eine massgeschneiderte Adaption für die heutige junge Generation. Ein Spaß von Anfang bis zum Ende.
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Bilder: © 2020 Constantin Film
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.