Die Zukunft fasziniert seit Jahrhunderten die Künste und inspiriert GeschichtenerzählerInnen zu literarischen Höhenflügen. Relativ selten handelt es sich bei den dabei entstehenden futuristischen Welten um grandiose Utopien. Das gilt auch für die Zukunftsvision in Raphaela Edelbauers zweitem Roman Dave. Sie ist sogar noch deprimierender als es auf den ersten Blick scheint.
Eine Rezension von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
16. Mai 2021: DAVE ist die erste echte, selbstdenkende künstliche Intelligenz oder zumindest soll er es werden. Als letzte Rettung für eine vor dem Untergang stehende Menschheit ist die Schöpfung DAVEs das oberste und einzige Ziel der gut zehntausend Menschen, die abgeschirmt von der unbewohnbaren Aussenwelt in einem fünfstöckigen Mega-Building leben. Aber der Weg zur Kreation eines gottgleichen Supercomputers wird nicht nur von technischen Problemen verstellt. Philosophische Fragen, halbreligiöser Fanatismus und die menschliche Natur selbst bilden schier unüberwindbare Hürden.
Als Lesende erleben wir die Welt des Labors durch die Augen von Syz, einem einfachen Programmierer, der seine Tage im Großraumlabor mit dem Schreiben von SKRIPTS verbringt. Das bedeutet die Beschreibung und Definition aller möglichen Lebenssituationen eines Menschen, die DAVE dazu dienen sollen, ein Verständnis für die Welt zu entwicklen. Tausende Programmierer erstellen Millionen solcher SKRIPTS in der Hoffnung, dass deren Verknüpfung irgendwann dazu führen wird, dass DAVE diese selbstständig kombiniert und aus dem Kontext neu formt. Leider stagniert DAVEs Fortschritt, und ihn mit nur immer mehr SKRIPTS zu füttern scheint nicht den gewünschten Effekt zu haben. Es braucht neue Ansätze und neue Perspektiven.
Syz, als scheinbar recht durchschnittlicher Bewohner des Labors weder hochrangiger Wissenschafter noch einfacher Lagerarbeiter, erlaubt uns zu Beginn das Geschehen aus der Mitte heraus zu betrachten. Mit genug Einblick in die Funktionsweise des Labors, um es den Lesenden erkennbar und begreifbar zu machen, gebildet genug, um die grundlegenden wissenschaftlichen und philosophischen Konzepte zu erklären, ohne die Geschichte in eine Abhandlung zu verwandeln. Seine Ausgangslage macht ihn zur perfekten Projektionsfläche. Auch sein Charakter ist recht durchschnittlich. Er ist weder ein großer Idealist noch ein Scheusal. Seine Lebensgeschichte ist komplex genug, aber nicht literarisch überkonstruiert. Er ist einfach normal. Dies gilt sowohl für seine Rolle auf der Ebene der narrativen Konstruktion des Romans als auch für seine Rolle im Plot.
Alle anderen Figuren sind mit ihrer Funktion fest verschweißt. Sie bleiben zweidimensional und dienen in ihrer Überspitztheit dieser Funktion, anstatt richtig glaubwürdige Personen darzustellen. Das müssen sie aber auch nicht. Denn in DAVE geht es nicht um komplexe Psychogramme, sondern um den titelgebenden Supercomputer und um die Welt, die Philosophie und Pathologie, die ihn zu schaffen versucht.
Der interessanteste Aspekt an DAVE ist, was zu seiner scheinbaren Unumgänglichkeit führt und was ein solches singuläres Ziel aus einer Gesellschaft macht. Allen im Labor ist klar, dass DAVE existieren muss, um alle Probleme lösen zu können. Eine Idee, die aus der Not geboren ist, weil die Welt nicht mehr bewohnbar ist und weil sich so viele Probleme angehäuft haben, ist zur immateriellen Heilandsfigur geworden. Aus der Lösung von spezifischen Problemen – die Abschaffung von Problemen. Dave soll so perfekt werden, dass er jedes mögliche Problem schon im Vorhinein verhindert.
Deshalb gilt die Prämisse, gar nicht darüber nachzudenken, wozu DAVE eingesetzt werden sollte, der Anlass ist verschwunden und der Ablauf umgekehrt: Zuerst die Möglichkeit zur Lösung schaffen und dann darüber nachdenken, was für Probleme es geben könnte – aber eigentlich entfällt dieser Punkt dann. Ein klassischer Schöpfungszyklus – Gott schafft Mensch, Mensch schafft Gott ab und baut sich einen neuen. Gott aus Mensch geboren. Aber es soll ein in Ketten gelegter Gott sein – den Bedürfnissen des Menschen unterworfen. Wie sehen diese Ketten aus? Braucht man sie überhaupt, um einen perfekten Intellekt einzuschränken? Ein unendlicher Gedankenstrudel. Doch das ist für die Wissenschaftler eigentlich nicht relevant, denn DAVE steht nicht in Frage – erst die Lösung, dann kann es überhaupt kein Problem mehr geben.
Faszinierend ist, sich die Gesellschaft anzusehen, die im Begriff ist, DAVE zu erschaffen. Sie ist unserer gegenwärtigen so ähnlich und doch scheint einem ihr Tunnelblick, ihre Ungerechtigkeit und ihre moralische Unbekümmertheit im Angesicht größter Ungerechtigkeit beinahe rückständig im Vergleich zu ihrer technologischen Kompetenz. Es sind eine religiöse Blindheit, die in jedem Atemzug und jedem Wort mitschwingt, und allzu gegenwärtige Mythologisierung der Vergangenheit. Da werden die ersten Programmierer in Heiligenbildern verehrt und Labore zu Pilgerstätten wie Kirchen. Dazu kommt eine tiefgehende Resignation und ein bitteres Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit. Die Idee der vorgreifenden Lösung kann aber auf zweierlei Weise verstanden werden: Als Größenwahn oder Kapitulation. Alles im Namen alles Leids zu eliminieren – die Aufgabe der Menschlichkeit. Dieses unbeirrte Bestreben jagt einem einen Schauer über den Rücken.
DAVE steckt bis zum Bersten voll mit gut recherchierten technischen, philosophischen, gesellschaftlichen und historischen Konzepten und intertextuellen Anspielungen. Diese Anspielungen, da sie stark markiert sind, stehen dem Buch hin und wieder ein wenig im Weg, während erstere dem Erzählten die notwendige Tiefe verleihen, die ein Buch dieser Größenordnung verdient hat. Aber man sollte weder erwarten, dass jedes einzelne Konzept in perfekter Ausführlichkeit erklärt wird, noch dass jede Implementierung einer Analyse durch einen jeweiligen Experten einwandfrei standhalten würde. Das ist aber auch nicht der Sinn dahinter. Es geht vielmehr darum, die zugrundeliegenden Gedanken in einen greifbaren und literarisch transformativen Kontext zu betten, der einem eine derartige Fülle von Anstößen und Ansätzen liefert, dass einen DAVE nach der Lektüre noch wochenlang verfolgt.
Raphaela Edelbauers Roman DAVE liest sich streckenweise wie eine überlange Kurzgeschichte von Philip K. Dick. Doch Raphaela Edelbauer nutzt diese Länge, um eine Fülle von Ideen in ein komplexes narratives Geflecht einzuweben. DAVE ist kein Science-Fiction-Thriller, dessen Plot einen zwingt, weiterzulesen, sondern eine tiefgreifende Versuchsanordnung, die einen zum Denken zwingt und das in angenehm unaufgeregter und funktioneller (nie aber zu simpler oder langweiliger) Sprache.
Titel: DAVE
Autorin: Raphaela Edelbauer
Verlag: Klett-Cotta
Seiten: 432
Erschienen: 2021
Genre: Roman/Science Fiction
Weitere Werke von Edelbauer: Das flüssige Land/Roman 2019.
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Alle Fotos: (c) Klett-Cotta, Victoria Herbig, heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.