Das Unbehagen, der zweite Roman des Dramatikers und Schriftstellers Thomas Arzt, nimmt uns mit zu einer mehrstufigen Spurensuche. Die Spuren der verflogenen Jugend, die Spuren verlorener Liebe/Nähe, die Spuren eines vergehenden Zeitalters. Die Spuren verlaufen aber nicht im Sand, sondern im Leben des Lehrers Lorenz Urbach.
von Peter Huemer, 16. 2. 2025
Lorenz ist Lehrer für Deutsch und Geschichte an einer Privatschule. Das Ende des Schuljahres steht vor der Tür. Es ist aber noch gerade genug Unterrichtszeit übrig, um einer idealistischen Schülerin die Chance zu bieten, ihren Professor mit einer recht fatalistischen Antwort auf die Frage nach der Kraft der Literatur aus der Bahn zu werfen. Zugegeben war dafür auch nicht allzu viel nötig. Der Wert seines bisherigen Lebens wird in Frage gestellt und damit die Perspektive auf sein künftiges ins Schleudern gebracht.
Ein diffuses Unbehagen bricht sich Bahn, treibt den Lehrer zu untypischen Gewaltausbrüchen und aufflammender Nostalgie. In den Nachrichten hört man von einer Bestie, die in den Bergen ihr Unwesen eben dort treibt, wo vor Jahren Lorenz ehemalige Geliebte (später Vertraute) verschwand. Also entflieht Lorenz der erdrückenden Stadt und macht sich auf die Suche nach beiden.
Der Auslöser des titelgebenden Unbehagens ist an der Oberfläche ein tief empfundenes Schuldgefühl der Welt und sich Selbst gegenüber, nicht genug mit dem eigenen Leben zum Wohle der Allgemeinheit bzw. Bedeutsames für einen Selbst getan zu haben. Es ist das Alter, die Mitte des Lebens, der Anfang gefühlt kultureller Bedeutungslosigkeit, und gleichzeitig (wegen einer Trennung) die Notwendigkeit sich als Individuum neu zu bewerten, der die Frage nach bisheriger Wertigkeit überhaupt relevant macht.
Es ist aber nicht nur Lorenz Antwort auf die selbst gestellte Frage und ein aus dem Menschen selbst geborenes Schuldgefühl, das ihn aus der Bahn wirft. Es ist in gleichem Maße eine Trotzreaktion auf einen von Seiten der ihm nachfolgenden Generation scheinbar implizit erhobenen Vorwurf. Warum hast du nichts getan? Wir demonstrieren, feiern kaum, engagieren uns wohltätig und trotzdem versinkt die Welt um uns im Chaos. Lorenz fühlt sich gegenüber dem Chaos machtlos und aus dieser Machtlosigkeit weckt der selbst und fremd erhobene Vorwurf seine Gewaltbereitschaft.
Was hätte er denn tun sollen? Alles niederreißen? Sein eigenes Leben wegwerfen für die gute Sache, die man als junger Mensch oft nicht einmal definieren kann? Stattdessen hat er ein Leben ganz im gesellschaftlichen Plan geführt und nun bricht dieses mehr und mehr in sich zusammen. Egal ob schuld oder nicht – er fühlt sich bestraft und bedrängt. Bleibt also nur die Flucht und die Suche nach dem Punkt in der Vergangenheit, an dem man falsch abgebogen ist. Es hätte alles anders sein können. Aber nichts lässt sich ungeschehen machen und so verkompliziert sich die Lage. Mehr als eine Suche – eine Jagd.
Mit Beginn der Suche nach der Bestie setzen sich die im ersten Teil platzierten Steine in Bewegung. Die Symbole werden klarer und die Verflechtungen enger. Stellenweise scheint das Gerüst des Romans etwas durch, wenn die Ereignisse nicht unbedingt zwingend, dafür aber effektiv sind. Damit gehen auch eine handvoll stilistischer Dissonanzen einher. Spätestens aber wenn bei genauerer Betrachtung die Eindeutigkeit der Symbole verschwimmt, findet der Roman seine Tiefe.
So ist irgendwann nicht mehr so klar, wer nun was repräsentiert. Da ist Lorenz, der gegen sein Leben aufbegehrt und gegen die Zustände der Welt aber auch gegen die Vorwürfe der jüngeren Generation. Er verwehrt sich der Zukunft – sowohl der düsteren, an der er sich selbst und man ihm eine Mitschuld gibt, als auch gegen die als korrekt propagierte. Seine Fluchtrichtung ist die Vergangenheit und lange ist nicht ganz klar, ob er sie sucht, um etwas wieder gut zu machen oder, um sich darin geborgen zu fühlen.
Genauso sind jene, die Jagd auf die Bestie machen, nicht so eindeutig interpretierbar. Einerseits versuchen sie mit Gewalt Kontrolle auszuüben (wie auch Lorenz) und Freiheit und Entwicklung einzudämmen, andererseits stemmen sie sich gegen ein gefühltes Chaos, gegen eine Gefahr aus der Fremde und werden aktiv. Wenn es für Lorenz verwerflich war, nicht genug getan zu haben und ein gewisser Egoismus darin steckt, sich um seiner Selbst willen, aus der Gesellschaft und deren Entwicklung auszuklinken, dann wird Freiheit zur zerstörerischen Kraft und die Jäger erscheinen in einem anderen Licht. Dagegen wiederum spricht die zur Schau gestellte Grausamkeit. Eine solche Interpretation ist nicht zwingend, tut sich aber auf und kann erforscht werden. Ähnliches gilt für viele Aspekte des Romans und das verleiht dem Buch Tiefe.
Das Unbehagen ist ein hoch konzeptionelles und dadurch angenehm ambitioniertes Buch, das hin und wieder von einer Überfülle an bedeutungstragenden Elementen gebremst wird. Wenn aber alles zusammenkommt und sich für die verschiedenen Aspekte mehrere Schichten auftun, die Konstruktionselemente zum Ganzen werden, zeigt sich die Qualität des Buches. Was kann Literatur? Immer mehr als man ihr zugesteht.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.