Mit Das Journal der Valerie Vogler legt Constantin Schwab zwar nicht sein erstes Buch aber doch sein Romandebüt vor und hat sich gleich eine ziemlich große Aufgabe gestellt. Einen Roman über die Kunst selbst und ihre Verflechtung damit, wie wir die Realität selbst wahrnehmen, um nur einen Aspekt zu nennen.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
Valerie Vogler ist Kulturjournalistin in Wien und hat in ihrer Karriere schon für so manche bedeutende Zeitschrift geschrieben. Ganz zufrieden mit ihrem Leben scheint sie aber nicht zu sein. Eines Tages bekommt sie einen Brief: die berüchtigte wie geheimniskrämerische Künstlergruppe AURORA lädt sie ins eisige Spitzbergen ein, um den Künstlern bei der Arbeit auf die Finger zu schauen. Eine einzigartige Gelegenheit.
Der Roman beginnt, bis auf das Vorwort, das schon wenig Gutes für unsere Protagonistin verheißt, wie man es von einem Tagebuch-Roman erwartet. Eine Bestandsaufnahme, ein Ausgangspunkt: Die Ankunft auf Spitzbergen, erste Gedanken zu Welt und Wetter, bevor die Geschichte loslegt. Lange hält das Gewohnte aber nicht an. Obwohl das stimmt nicht ganz. An der Oberfläche entwickelt sich die Handlung recht vorhersehbar. Aber das ist eine Illusion, wie so vieles an diesem Buch. Aber dazu später.
Valerie Vogler trifft also in der abgeschiedenen Werkstatt auf vier norwegische Maler, die ihr sogleich ihr Heim öffnen. Ein eigenes Zimmer, gutes Essen, interessante Gesellschaft und die einzigartige Chance, einem Meisterwerk beim Entstehen zuzusehen. Soweit so gut. Es dauert aber nicht lang bis sich die ersten Mysterien auftun: Warum hat man gerade Valerie eingeladen? Warum will sich die Gruppe auf einmal offenbaren? Was befindet sich hinter der stets verschlossenen Tür?
Formell stellt sich Das Journal der Valerie Vogler, wie der Titel schon erahnen lässt, als Tagebuch-Roman vor. Die Journalistin hält die Ereignisse ihres Aufenthalts fest, um daraus einen Artikel oder eine Reportage zu machen. Dieses formelle Gerüst ist aber der erste Schleier, den Constantin Schwab uns vor die Augen hält. Und das bezieht sich nicht bloß auf die Handlung mit ihren doppelten Böden, sondern vor allem auf die Bedeutungsebenen jenseits des Plots.
Die Tagebuch-Fassade als literarisches Spiel offenbart sich schnell, wie sie es meistens tut. Zu unmöglich scheint es, wie die Dinge aufgeschrieben, formuliert und strukturiert sind. Oft scheint es unwahrscheinlich, dass Valerie überhaupt die Möglichkeit hat, zu schreiben und hin und wieder baut sie sehr gewollt Spannung durch Auslassung auf, was sie wohl in ihren Notizen, die für sie selbst gedacht sind, nicht tun würde. Die Stellung des Werkes als Kunst und nicht als Zufallsprodukt der Ereignisse ist klar und gewollt. Darauf stoßen einen offensichtlich die Überlegungen über Kunst aus den Mündern der vier norwegischen Maler.
Der Untertitel einer Edvard Munch (Der Schrei) Ausstellung in Wien gibt einen Hinweis, sowie auch eine Vielzahl anderer Verweise auf Kunstwerke und Künstler, deren Motive und Gedanken sich im Buch spiegeln oder die im Text mitschwingen. Die dokumentarische Ebene besteht aus der Form des Textes, den Behauptungen der Protagonistin und der fiktiven Paratexte (Beispiel: das Vorwort) und bildet das Gerüst oder die Leinwand, auf die der bunte Mix aus Erzählfarben aufgetragen wird.
Diese Farben sind allesamt bekannte Motive, fast schon Klischees, aus denen sich die einzelnen Bedeutungsebenen zusammensetzen: Die bekannten Regeln eines Tagebuchsromans, der traditionellen und absichtlich recht vorhersehbaren Schritte einer Thrillerhandlung, die emotionale Transformation einer Selbstfindungsreise, die Bilder und Intensität eines französischen Horrorfilms, die doppelten Böden und Relativierungen eines Psychotrips – diese Dinge sind allesamt nicht Motiv, sondern einzelne Pinselstriche. Das Buch ist alles andere und nichts allein: Es ist die Abbildung der künstlerischen Wirklichkeit, ohne dies auf einer Metaebene zuzugeben. Im Roman ist von der Unfähigkeit der modernen Kunst die Rede, etwas darzustellen, ohne das Dargestellte in Selbstbetrachtung ironisch zu brechen und genau das vermeidet der Roman. Das Buch nimmt sich ernst und findet seine Brechungen, seine Aufsplitterung in viele Einzelteile, die den Interpretationsrahmen erweitern, ohne Flucht in die Ironie. Das ist bewundernswert.
Während sich die Stücke, aus denen dieser Roman besteht, wunderbar ineinander fügen und auch für sich gesehen kompetent ausgeführt sind, ist sprachlich nicht alles auf einem Niveau. Nachdem der Text zu Beginn sehr schnell unter dem Deckmantel des Tagebuchromans hervorkommt und sich sprachlich davon mit wohl konstruierten Sätzen und gewollter Künstlichkeit befreit, passiert es immer mal wieder, dass der Text in entweder allzu scheinauthentische Sprache oder in Küchentisch-Philosophie abdriftet, wie sie für die wirklichen Gedanken eines Menschen, der nicht damit rechnet sie für die Öffentlichkeit niederzuschreiben, passend wären. Aber die Illusion lässt sich, wenn sie einmal zerstört ist, nicht wieder aufbauen und es hätte dem Buch gut getan, wäre die Sprache in dieser Hinsicht konsequenter. Die meiste Zeit über ist sie das nämlich und umso mehr fallen diese Stellen ins Auge.
Ein weiteres Problem zeigt der Blick auf einzelne Aspekte. So hätte beispielsweise den sexuellen Szenen mehr Feingefühl gutgetan, sowohl von Seiten Valeries als auch von Seiten der anderen Beteiligten. Vor allem in Anbetracht der dargestellten Machtdynamiken und Motivationen wäre Platz für mehr Reflexion und emotionalen Kontext gewesen, ohne an Effekt einzubüßen. So nehmen diese Szenen zwar gut ihren Platz im Gesamtbild ein und erzielen den erwünschten Effekt, sind aber für sich gesehen im näheren, ungebrochenen Real-Kontext des Plots ein wenig fragwürdig.
Noch mehr Infos zu Autor und Buch gibts in Episode 10 von Peters Büchertisch.
Das Journal der Valerie Vogler ist ein hochgradig ambitionierter Roman, der seinen Ambitionen auch allergrößten Teils gerecht wird. Auf mehreren Ebenen spielt Constantin Schwab mit den Lesern, ohne je in Ironie zu verfallen. Dieses Buch funktioniert, aber um dieses Funktionieren zu begreifen, darf man es nicht mit starrem Blick und nicht bloß von einer Seite betrachten: nicht nur den Plot, nicht nur die Verweise, nicht nur die Twists und nicht nur die Form – man muss einen Schritt zurück treten und alles auf einmal aufnehmen. Das ist eine Herausforderung, aber eine, bei der es sich lohnt, sie anzunehmen. Da wiegen auch die kleineren Schwächen im Detail nicht schwer.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.