In seinem dritten Roman schickt uns Paul Ferstl in die erstaunlich ereignisreiche Welt österreichischer Auslandszivildiener in Rumänien. Junge Menschen in ungewohnter Umgebung, die sich fern der Heimat dem ersten Abschnitt ihres Erwachsenenlebens stellen – so das bemerkenswerte Setting eines bemerkenswerten Buches.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
13. August 2022: Pich ist 19, gelernter Tischler und schaufelt in Rumänischen Provinz ein Grab für Ivan Lendl, der eigentlich gar nicht Ivan heißt, dafür aber Lendl und deshalb in Anlehnung an den Tennisspieler einen neuen Vornamen verliehen bekam. Das scheint so üblich zu sein unter den Zivildienern in Rumänien. Keiner bleibt dort, wer er zuhause war. Und einige kehren nie mehr in ihr altes Ich zurück, ob durch Tod oder Heirat. Kurz vor Ende von Pichs Dienstzeit wird Ivan beim Abladen von einem gelieferten Ofen erschlagen und dieses Ereignis ist unsere Tür in Geschichte.
Gegen den Willen seiner Familie geht Pich zum Auslandszivildienst nach Siebenbürgen und bricht in eine neue Welt auf. Die Straßen sind gefährlich, die Gebräuche unbekannt, die Kollegen exzentrisch und die Arbeit fordert Flexibilität. Aber die Situation scheint nicht allzu schlecht zu sein. Schnell macht Pich Bekanntschaft mit der Gegend und den Gepflogenheiten und über die kommenden Monate lernt er die anderen Zivildiener und nach dem Dienst Dortgebliebenen kennen: Ivan, Bobby, Dr. Richard und Keanu Reeves bilden den Kern der Figurenriege – alle unter neuem Namen. Das hat Tradition.
Mit der Fülle an Figuren übernimmt sich der Roman aber nicht. Mit erstaunlich natürlicher Leichtigkeit verleiht Ferstl den Charakteren ihre eigene Stimme, ihre eigenen drei Dimensionen und lässt sie in allen Dialogen zum Leben erwachen. Begünstigt wird dies vor allem durch den leichtherzigen Grundton des Buches. Die Sprache Ferstls ist einfühlsam, nahe am Menschen und in schweren Situationen unbarmherzig. Sie verliert aber nie einen gewissen Witz, eine ironische Sicht auf die Welt, die einem jede Seite erleichtert und zum Genuss werden lässt – keine hochfliegenden Formulierungen, sondern treffende und unaufgeregt tiefgründige Beschreibungen des Erzählten durch die Linse des Protagonisten. Obwohl nicht aus der ersten Person erzählt, klebt die Erzählstimme an Pich und sieht die Welt durch seine Augen.
Obwohl Pich keine leere Hülle, keine unbeschriebene Identifikationsfigur ist, erdet sein nachvollziehbarer und symphatischer Charakter den Roman. Seine inneren Widersprüche wirken dabei harmonisierend, verleihen dem Werk eine Echtheit, die man selten so erlebt. Pich liebt Gleichförmigkeit, Erwartbarkeit und monotone Arbeit. Er liebt es, durch nachvollziehbares Handeln nachvollziehbare Ergebnisse zu erzielen. Das steht im Widerspruch mit seiner Entscheidung, ins Unbekannte hinaus zu ziehen und seiner Angewohnheit, jede noch so abenteuerliche Aufgabe zu übernehmen. Dieser Widerspruch zieht sich durch den Roman. Man könnte sogar seine Liebe für die Berge, wo man nie um die nächste Kurve, über den nächsten Gipfel sehen kann und den dem gegenüberstehenden Hass für die weite und öde Ebene mit diesem Widerspruch in Verbindung bringen – der innere Widerstreit in seiner Seele.
Das Grab von Ivan Lendl ist ein Buch, das nie still steht. Es ist kein Buch langer innerer Monologe oder stagnierenden Philosophierens. Nicht, dass es arm an Introspektive ist, aber es bettet diese innere Bewegung Pichs stets in echte Bewegung. Ständig wird von A nach B gefahren, Autos werden überstellt, Ausflüge werden gemacht, Projekte werden durchgeführt oder überraschende Probleme gelöst. Dass in 14 Monaten Zivildienst so viel geschehen kann, überrascht einen, ist aber nie unglaubwürdig. Zu echt wirkt diese Welt.
Es gibt aber nicht nur aufregende Abenteuer, waghalsige Reisen und feuchtfröhliche Abende. Wie der Titel schon suggeriert, sitzt der Tod und Schmerz mit am Tisch. Das Leben der Zivildiener ist nicht ungefährlich. Junge Männer in der Fremde. Autounfälle und Schlimmeres sind Teil ihres Lebens, und die harte Realität überschattet den Roman an allen Ecken und Enden. Besonders hart treffen einen diese eigentlich dominanten dunkleren Aspekte des Lebens, weil die humorvolle Sprache einen oft in Sicherheit wiegt. Dieser gesunde Mix entwickelt in den wunderbar authentisch geschriebenen Dialogen einen richtigen Sog. Weglegen ist da stellenweise unmöglich.
Die Macro-Struktur des Romans, das hin und her Wechseln zwischen der Zeit nach Ivans Tod und der Zeit vom Beginn von Pichs Zivildienst bis zu Ivans Tod – das alles funktioniert wunderbar und führt zu einer guten Aufteilung wichtiger Informationen, großer Offenbarungen und einer Durchbrechung strenger Chronologie. Gleichzeitig muss man aber sagen, dass die Übertragung dieser Struktur auf die Micro-Struktur einzelner Kapitel nicht immer klappt. Da gibt es immer wieder innerhalb eines als Rückblende empfundenen Kapitels einen unnötigen Vorgriff, nur um nach einer Seite eine kurze Rückblende einzuführen, die dann das zuvor Erzählte schnell wieder einholt. Selbes Prinzip, aber weder notwendig noch gewinnbringend.
Ein Beispiel: Da stecken die Zivildiener mit ihrem Auto im Schnee fest. Ein Rückgriff erzählt, dass sie das Auto nach Odessa bringen sollen, sich kurz unterhalten, losfahren und dann sind sie eh schon im Schnee. Eine unnötige Verkomplizierung, eine Verschachtelung, die vier- oder fünfmal im Buch vorkommt und nichts beiträgt. Diese strukturellen Spielereien erscheinen genau als solche und schaden dem Roman mehr, als dass sie helfen. Aber das ist Detailkritik.
Mehr erfahrt ihr hier in unserem Gespräch mit dem Autor bei Peters Buchtipp:
Das Grab von Ivan Lendl ist ein eindrucksvoller Roman. Das kreative Setting und die Paarung von zielstrebiger, aber tiefgründiger Sprache mit stets humorbereitem Grundton und die gekonnt aufgebaute und verwobene Handlung ergeben ein durch und durch stimmiges Werk, das zugänglich und gleichzeitig anspruchsvoll ist. Die tollen Figurenzeichnungen und tiefgreifenden, aber unaufgeregt vorgebrachten, Emotionen tun ihr Übriges.
Das Grab von Ivan Lendl von Paul Ferstl ist im Milena Verlag erschienen.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.