Eine Plage folgt auf die andere. Das gilt nicht nur für die Realität, sondern auch für die Handlung von Das giftige Glück von Gudrun Lerchbaum. Zum Glück nimmt die Autorin die Sache mit Sprachwitz und einer guten Prise Ironie. Dabei wäre das Szenario eigentlich richtig zum Fürchten.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
23. Februar 2022: Wien in der nicht allzu fernen Zukunft. Die Corona-Pandemie ist vorbei und nur noch eine ungute Erinnerung im Rückspiegel. Aber da kommt schon das nächste Unheil auf die österreichische Hauptstadt zu. Eine mysteriöse Häufung von Todesfällen. Irgendetwas vergiftet die Bürger der Stadt. Der Übeltäter ist schnell ausgeforscht: Bärlauch. Ein scheinbar mutierter Pilz hat die Pflanze befallen und der Verzehr des Gewächses führt zu einem raschen, aber äußert angenehmen Tod. Ein glücklicher und schmerzloser Tod? Für so manchen klingt das verlockend.
Ein Wissenschaftler berichtet in der Zeit im Bild von den ersten Erkenntnissen zum Bärlauch. Sogleich wird er gefragt, ob das Ganze ansteckend sei und ob wir uns in der nächsten Pandemie befänden. Keine Pandemie des Körpers, aber vielleicht eine des Geistes steht bevor, denn dem Mann rutscht etwas Dummes heraus: Der Tod durch diese Vergiftung sei ein glücklicher. Das lässt unsere Protagonisten aufhorchen. Da ist zum Beispiel Jasse, eine Teenagerin, deren Mutter sich aus dem Staub gemacht hat, und die, obwohl sie sich stark und gleichgültig gibt, mit Versuchung und Schuld zu kämpfen hat, oder Olga und Kiki, eine leidende MS-Kranke Frau und ihre Freundin und Pflegerin, die im Bärlauch einen möglichen Ausweg sehen. Der Bärlauch, das Viennese Weed, greift um sich und wirft schwierige Fragen auf.
Der Tod ist eine beängstigende Sache für die meisten. Aber irgendwie scheint er in Das giftige Glück in der Gesellschaft einen anderen Stellenwert eingenommen zu haben. Natürlich ist es eine Tragödie, wenn jemand stirbt, und natürlich fürchtet man sich davor. Aber irgendwie scheint die Idee, jemand könnte im Restaurant neben einem tot umfallen, nicht so ungewöhnlich wie früher. Nach einer überstandenen Pandemie ist der Tod zum alten Bekannten geworden. Da überrascht es auch nicht, dass mancher sich danach sehnt. Aber ganz so einfach ist es auch nicht. Vor allem für die (potentiellen) Hinterbliebenen. Die Frage ist aber nicht: Leben oder Tod? Die Frage ist: Wer entscheidet? Anfangs entscheidet natürlich niemand – der Zufall, der Bärlauch. Aber sobald die Gefahr erkannt ist, ändert sich das.
Darf ein freier Mensch über das Ende seines eigenen Lebens bestimmen und soll man ihm dabei helfen, wenn man ihn liebt? Eine unbeantwortbare Frage, mit der sich das Buch dennoch auseinandersetzt. Aber ein Gift kann man sich ja nicht nur selber verabreichen. Die Menschen denken schnell daran, das Kraut als Waffe einzusetzen. Überhaupt finden die Menschen immer einen Weg, alles als Waffe einzusetzen. Und wo steht der Staat? Alleine diese Fragen könnten schon 1000 Seiten füllen, dabei war das noch längst nicht alles. Glücklicherweise schafft es Gudrun Lerchbaum in ihrer Erzählweise, die ausufernden Problemstellungen in ihren Charakteren zu konzentrieren und damit den Umfang, nicht aber den Tiefgang des Romans einzuschränken. Sie bleibt nahe beim Menschen und seinen direkten Emotionen und verrennt sich nicht im philosophischen Kleinkrieg.
Die Welt von morgen unterscheidet sich kaum von heute. Die Menschen sind wer sie immer schon waren und die Medien berichten in von sich selbst abgeschriebenen Worten von aktuellen Ereignissen. Wüsste man es nicht, wäre es kaum zu bemerken, dass das giftige Glück in der Zukunft spielt. Aber was soll sich in ein paar Jahren schon ändern? Trotzdem finden sich immer wieder kleine Veränderungen im Detail, die einen diese wenigen Schritte in die Zukunft versetzen. Bargeld: so oldschool. Verwendet kaum noch jemand, ist für Teenager eine Merkwürdigkeit. Und in den Gedanken der Leute zeigt sich die Konsequenz der Gegenwart. Sie scheinen allesamt noch eine Spur zynischer als sie es schon sind. Nur eine Spur, aber es ist spürbar.
Viel kann man an das giftige Glück nicht kritisieren, außer ein paar erzählerische Abkürzungen, die sich Gudrun Lerchbaum erlaubt. Beispielsweise lässt sie gleich am Anfang einen Wissenschaftler in der ZIB einen großen Haufen Exposition aufsagen, und mit einer äußert merkwürdigen und fast schon unglaubwürdigen Aussage am Ende seines Interviews den Grundstein für die Motivationen der Protagonisten legen. Das hätte man auch feinfühliger machen können. Natürlich spart es Zeit und Seiten, ist aber gleichzeitig nicht sehr elegant. Das Interview als quasi Einstieg ist in sich selbst gut gelungen. Es liest sich authentisch und doch überspitzt. Der leicht satirische Ton, der sich durch viele Szenen des Buches zieht, findet hier seinen Anfang. Die satirische Überspitzung ist im Großen und Ganzen gut gelungen und verharkt sich nur manchmal, wie zum Beispiel in einem fiktiven Facebook-Verschwörungs-Post zu sehr in Anspielungen und flachem Kommentar auf aktuelle Stimmungslagen – so witzig das Ding auch geschrieben ist.
Gudrun Lerchbaums Sprache ist unprätentiös und effektiv. Kaum ein Wort ist zuviel und jeder Satz erfüllt seinen Zweck. Vor allem aber schafft es die Autorin, ihre Sprache immer an die jeweils im Zentrum stehenden Charaktere anzupassen, ohne auch nur für einen Moment Stilbrüche zu erzeugen. Es ist eine Stimme, die spricht, und dennoch viele. Das zeigt sich in der Veränderung des Vokabular. Die Häufung von Anglismen oder dergleichen markiert Perspektivwechsel, die sind angenehm in ihrer Subtilität. Auch was die Emotionen der Charaktere betrifft sind die Erzählverhältnisse optimal gewählt. Die Erzählstimme bleibt neutral und die Charaktere selbst schreien, weinen, freuen sich. Emotionen kommen aus den Menschen und werden ihnen nicht von außen zugeschrieben. Für eine Geschichte über Selbstbestimmung ist das perfekt. Der Mensch ist die Mitte und der Fokus.
Das giftige Glück von Gudrun Lerchbaum ist eine gelungene Was-wäre-wenn-Erzählung, die sich mit Humor und Einfühlsamkeit einigen wichtigen Fragen der menschlichen Existenz stellt. Das Szenario ist so kreativ wie es aktuell relevant ist und bis auf ein paar narrative Akürzungen, die sich die Autorin erlaubt, gibt es kaum etwas auszusetzen. Eine Leseempfehlung!
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Alle Fotos (c) heldenderfreizeit, Haymon Verlag, Martin Jordan
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.