In seinem neuen Roman Das Café ohne Namen nimmt uns Robert Seethaler auf eine Zeitreise ins Wien der 60er Jahre mit. Er erzählt von Menschen, Schicksalen und dem unaufhaltsamen Lauf der Zeit in einem aus der Asche auferstehenden Wien.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schrifsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
8. August 2023: Im Jahr 1966 pachtet der Gelegenheitsarbeiter Robert Simon ein verlassenes Geschäftslokal am Karmelitermarkt und eröffnet sein eigenes Café. Obwohl er keinerlei gastronomische Erfahrung mitbringt, kommen die Gäste und füllen sein Lokal. Die Menschen kennen Robert vom Markt und schnell ist das Café eine kleine Institution der Gegend. Zahlreiche Stammgäste bevölkern die Tische und Robert findet sein Zuhause in der neuen Rolle als Wirt.
Das Café ohne Namen ist kein Roman mit treibender Handlung oder spannenden Twists. Das Leben ist die Handlung und die alltäglichen Freuden, Schmerzen, Tragödien und Hoffnungen der Menschen sind die Twists. Um Robert Simon scharen sich die Gäste als Protagonist:innen ihrer eigenen Lebenswege und wenn auch nicht in jedem Leben Außergewöhnliches geschieht, so schafft es Robert Seethaler die Nuancen von Bedeutung aus jedem Schicksal herauszuarbeiten. Die Geschichte beginnt, eine Entscheidung wird getroffen, das Leben nimmt seinen Lauf und die Geschichte endet. So ließe sich das Buch beschreiben, wäre da nicht diese tiefe Emphatie, die Seethaler seinen Charakteren entgegenbringt und ohne jede Theatralik zum Ausdruck bringt.
Nachdem der Roman über Robert Simon, seine Vergangenheit, Lebensumstände und die Gründungstage des Cafés zu Beginn konzentriert erzählt bildet sich um diese Ausgangslage ein Mosaik aus Geschichtsfragmenten der Leben einer ausgewählten Anzahl von ProtagonistInnen. Da sind Mila, die ehemalige Näherin, die bei Robert als Kellnerin anfängt, der Fleischhauer gegenüber und dessen wachsende Familie, René der alternde Schaukämpfer, die Kriegerwitwe, bei der Robert ein Zimmer mietet und einige mehr.
Bei aller Nähe zu seinen Gästen ist es ein zentrales Thema des Buches, wie wenig man von den Menschen eigentlich weiß, mit denen man sich jeden Tag am Tisch unterhält. Mehrmals reflektiert Robert Simon darüber. Wann immer einer seiner Gäste sich außergewöhnlich verhält, realisiert Robert, dass er eigentlich nicht weiß, wer das wirklich ist, der da vor ihm steht. Aber auch die anderen Charaktere erleben dieses Gefühl, obwohl sie es nicht derart explizit aussprechen. Immer wieder sprechen sie miteinander und können doch nicht effektiv kommunizieren. In ihren eigenen Geschichten und Gefühlen sind sie stets allein und leiden isoliert – nur an den Rändern sickert das Verständnis durch. Aber dennoch brauchen die Menschen einander, um sich aneinander festzuhalten, wenn sie auch ihre eigenen inneren Probleme nicht weitergeben können.
Dieses Gefühl von Parallelität begründet sich aber nicht nur darin, was die Charaktere tun und sagen, sondern auch in Seethalers Art zu erzählen, eine Nahe aber gleichzeitig neutrale Haltung, die Empathie durch Respekt vor der narrativen Kraft der Figuren erzeugt. Sie brauchen den Erzähler nicht, um uns zu ausufernd zu erklären, was ihre Gedanken bedeuten.
Was einem nach der Lektüre im Gedächtnis bleibt, ist vor allem ein Gefühl von Wahrhaftigkeit. Das Buch kommt angenehmerweise ohne ironischen Bruch, konstruierten Kommentar und Voyeuristik aus. Das soll nicht heißen, dass all diese Dinge etwas Schlechtes wären, aber ihre Abwesenheit in Das Café ohne Namen steht dem Roman gut zu Gesicht. Jeder Eingriff in die pure Darstellung wäre eine Ablenkung vom Wesentlichen, das dieses Buch kommuniziert.
Zusammengehalten wird der Roman von der glaubhaft detaillierten Kulisse. Wien in den 60ern, eine Stadt, die aus der Nachkriegslethargie erwacht, ist ein Ort der Veränderung zwischen Tradition und Zukunft. Die Kinder des Krieges übernehmen Schritt für Schritt die Straßen der Stadt während die verwitweten Frauen und die gebrochenen Soldaten im Inneren der Häuser verschwinden und sich entweder in nostalgischer Verklärung oder traumatischer Verdrängung aufzulösen beginnen.
Robert Seethalers Roman Das Café ohne Namen ist ein unaufgeregtes und intimes Buch, das die Lesenden ohne große Tricks und Schauspiel in den Bann zieht. Ein Mosaik von bedeutsamen Lebensscherben, das für jeden trotz oder gerade wegen des detaillierten historischen Settings den einen oder anderen Identifikationspunkt bereit hält. Es ist ein Buch, in das man sich hineinfallen lässt.
Das Café ohne Namen ist im April 2023 im Claassen Verlag erschienen.
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Aufmacherfoto: (c) heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.