Obwohl gehypt wie kein anderes Spiel dieses Jahr, entpuppt sich Cyberpunk 2077 zu Release für Videospieler als Enttäuschung. Das liegt aber nicht nur am unfertigen Zustand des eigentlich ganz spannenden Actionspiels, sondern vor allem an falscher Vermarktung. Unser Review.
von Sophie Neu
15. Dezember 2020: Veteranen der Videospiel-Industrie kennen mittlerweile die Hype-Zyklen, in die wir Spielenden uns gerne hineinwiegen. Ein Teaser erscheint, die Marketingabteilung verspricht revolutionäre neue Features und schon springen wir an Bord des Hypezugs. In Cyberpunk 2077 von CD Projekt Red sollten ein spannendes neues Kampfsystem und eine atemberaubend vertikale Welt in Kombination mit dem beliebten Storytelling aus Witcher uns begeistern.
Jetzt, kurz nach Release, ist die Enttäuschung für viele groß. Zu hoch wurden die Erwartungen durch die vielen Videos, Livestreams und Deals mit Influencern gesteckt. Dabei ist Cyberpunk 2077 nicht einmal ein schlechtes Spiel. Sondern, abseits seines unfertigen Zustandes, eigentlich gutes Mittelmaß und ziemlich stark für ein erstes Actiongame mit Shooter-Mechaniken des Studios.
Kaum ein Entwicklerstudio hat so oft und so direkt mit seinen Fans kommuniziert wie CD Projekt Red in den letzten Monaten. Statt wie sonst üblich Pressemeldungen rauszuhauen, wurden die Spieler mit regelmäßigen Livestreams am Laufenden gehalten. Night City Wire nannte das polnische Studio diese ziemlich direkte Form der Vermarktung. Dort wurden Spieler auch das erste Mal an die große Protagonistin des Titels herangeführt: Die Stadt Night City. Auf die Versprechungen, wie unglaublich detailliert und futuristisch die Welt von Cyberpunk 2077 sein sollte, ließen wir uns nur zu gerne ein. Und wirklich, in großen Teilen gelingt es CDPR, uns mit ihrer Stadt zu beeindrucken. Zwar wirkt die Welt nicht ganz so lebendig wie erhofft -in vielerlei Hinsicht fehlen tiefere Gedankengänge, wie diese Stadt genau funktionieren soll (wer braucht schon öffentlichen Transport in einer Millionenstadt).
Aber egal, wo wir unterwegs sind, das Actionspiel sieht (zumindest am PC) immer atemberaubend aus. Jeder Bezirk hat eine eigene Optik. Riesige Wolkenkratzer türmen über den Straßen der Stadt. Winzig fühlen wir uns im Vergleich, wenn wir durch die kleinen Seitengassen von Watson huschen, während über uns Autos über die Highways donnern. Wir merken, mit wieviel Liebe fürs Detail die Entwickler an Night City herangegangen sind. Keine Ecke, sei sie auch noch so abgelegen, vernachlässigten sie. Es steckt viel Herzblut in Cyberpunk. Und das wurde auch von Anfang an lautstark kommuniziert. Und vielleicht wollten wir deswegen auch so sehr, dass der Titel ein Erfolg wird. Wir fieberten mit den Developern mit.
Besonders die Nahbarkeit der Night City Wires gefiel vielen. Uns wurde nicht das Bild eines Milliarden-Unternehmens vermittelt, in dem Developer Überstunde um Überstunde lieferten und für die Investoren bis an ihr Limit gehen. Sondern das eines sympathischen Indie-Entwicklers von nebenan mit ambitionierten Plänen. Menschen, die für ihr Spieleprojekt brennen und gerne mal in ihrem Idealismus und Perfektionismus Freizeit und sogar Gesundheit dafür opfern. Und wer unterstützt schon nicht gerne den (medial inszenierten) Underdog? Dass all das durchgehende Crunchen der Mitarbeitenden in den letzten Monaten nicht für ein fertiges Spiel gereicht hat, dürfte nicht nur uns Spieler frustrieren.
Denn soviel ist klar: Cyberpunk 2077 läuft auch nach ersten Patches alles andere als rund. Lustige Bugs, bei denen unser Automobil in hohem Bogen durch die Luft geschleudert wird? Geschenkt. Wenn wir unser Transportmittel aber plötzlich nicht mehr rufen können, bis wir das Spiel neu gestartet haben, dann fängt die Sache an, frustrierend zu werden. Wir laufen mit festgebuggten Menüfenstern im Bild herum. Unsere NPC-Ansprechpartner sind genau das nicht, was sie sein sollten: Ansprechbar. Unser Boss-Gegner schafft es nicht aus dem Aufzug, glitcht umher und bleibt unbesiegbar. Es macht traurig, dieses Spiel mit Potential in so unfertigem Zustand zu sehen. Traurig für uns, die Spieler. Aber vor allem auch traurig für die Entwickler, die sich die Präsentation des Endprodukts ihrer jahrelangen Bemühungen bestimmt anders vorgestellt haben.
Schließlich geht gleichzeitig mit den enttäuschten User-Wertungen auf Meta-Critic und Co. auch das Vertrauen in die Developer verloren. Ein jahrelanger Ruf als Europas bestes Entwicklerstudio schwindet vor ihren Augen dahin. Wirklich etwas dafür können sie nicht. Mehrmals war zu lesen, dass auch Entwickler gleichzeitig mit dem Rest der Welt über Twitter zu weiteren Delays und Planänderungen informiert wurden. Statt auf interne Kommunikation wurde hier anscheinend die externe stark bevorzugt.
Dabei müsste man die Developer eigentlich loben. Dafür, dass Cyberpunk 2077 nicht unbedingt revolutionäre, aber doch solide Shooter-Mechaniken hat. Dafür, dass die Autos sich weit besser als etwa in Watchdogs steuern lassen. Vor allem, wenn wir bedenken, dass es überhaupt CD Projekts erstes Spiel in modernem Setting ist. Aber wenn vom Marketing von vorneherein der Knaller schlechthin versprochen wird, mit nie dagewesenen Kampfmechaniken, dann kann das Spiel gegen die geschürten Erwartungen nur scheitern.
Traurig macht dieser Absturz auch, weil die Story rund um Hauptcharakter V. ordentlich unterhält. Sie reicht zwar von der Tiefe nicht an den Witcher heran. Sie steht der von anderen, beliebten Open-World-Games wie Watchdogs oder GTA aber in Nichts nach. Schon die drei Origin-Geschichten, bei der wir uns für einen Background als Nomade, Street Kid oder Corpo entscheiden, zeigen uns drei komplett unterschiedliche Visionen auf Night City. Es handelt sich zwar nicht, wie beworben, um ein RPG (denn dafür sind die persönlichen Handlungsoptionen viel zu beschränkt), sondern um ein gutes Action-Adventure.
Abseits von generischen Nebenmissionen, die die Spielemap zu einem unübersichtlichen Symbol-Meer verwandeln, bietet Cyberpunk 2077 aber absolut großartige Nebencharaktere. Hier glänzt CDPR in gewohnter Witcher-Manier. Sie wachsen uns allesamt ans Herz. Doch egal ob Kumpel Jackie, Nomaden-Freundin Panam oder Love-Interest Judy, sie alle werden von den dunklen Wolken der Unzufriedenheit überschattet, die das enttäuschte Vertrauen vieler Vorbesteller mit sich zieht.
Denn für die große Mehrheit der Spieler, die Cyberpunk 2077 noch immer auf PS4 und Xbox One spielt, läuft das Game überhaupt nicht rund. Von absurden Grafikglitches, bei denen NPCs plötzlich aussehen, wie von der PS1, bis hin zu gravierenden Abstürzen, lässt der Titel anscheinend keinen Bug aus. Beim Testen mit der ersten Version der Xbox One kam es bei uns vor allem zu Framedrops und Freezes.
Jetzt könnte man natürlich argumentieren, dass es sich ja mittlerweile schon um die “alte” Konsolengeneration handelt. Allerdings wurde Cyberpunk doch eigentlich für diese Generation entwickelt und sollte entsprechend flüssig darauf laufen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass noch vor Release versprochen wurde, dass die Performance auf PS4 und Xbox One gut sei. Im Endeffekt können wir nur hoffen, dass die für Jänner angekündigten Patches der Performance der Last-Gen-Version auf die Sprünge helfen. Bis dahin gibt es immerhin die Möglichkeit, das Spiel zurückzuerstatten.
Woran liegt es im Endeffekt, dass der Hypezug um Cyberpunk 2077 mit voller Wucht entgleist ist? Ziemlich sicher nicht an den eigentlichen Inhalten des Spiels. Denn mit einem weiteren Delay hätten die Entwickler sicher auch die verbliebenen Bugs und Performance-Probleme lösen können und ein ordentliches Action-Spiel geliefert. Nur wurde ihnen die Zeit vom Management nicht mehr vergönnt. Ironisch, wenn man bedenkt, dass der große Antagonist von Cyberpunk Vorsitzender eines Riesenkonzerns ist. Viel eher aber liegt die Verantwortung beim extremen Hype-Marketing, das so professionell wie noch nie um dieses Spiel herum entwickelt wurde und Erwartungen geschürt hat, die kein Game dieser Welt jemals erfüllen kann. Nicht einmal Cyberpunk 2077.
Welche Spiele wir dieses Jahr ganz besonders gut fanden, verraten wir dir hier:
Die 20 besten Videospiel-Geschenktipps 2020
Immortals: Fenyx Rising
Bilder: ©CD Projekt Red
Die Journalistin ist bei Videospiel-Tests und Wien Guides voll in ihrem Element. Seit 2021 verstärkt sie die Redaktion des KURIER.