Romy Schneider Kitsch war einmal. In Corsage interpretieren Regisseurin Marie Kreutzer und Hauptdarstellerin Vicky Krieps den Sisi-Mythos als Geschichte der Selbstbefreiung neu.
von Susanne Gottlieb
10. Juli 2022: In Österreich kennt sie jeder: Kaiserin Elisabeth, auch genannt Sisi (Sissi war die Filmschreibweise). Sie war vorletzte Kaiserin Österreichs, Gemahlin von Franz Joseph I. und Vorläuferin der tragischen Prinzessinnen-Figur in den erdrückenden Klauen eines Herrscherhauses – eine Rolle, die Prinzessin Diana hundert Jahre später noch perfektionieren würde. Eine Figur, die auch ihre Interpretin oft wie ein Fluch verfolgte. “Kitsch, für den ich mich schäme,” sagte die Romy Schneider später über ihre im deutschsprachigen Raum berühmteste Rolle. Eine Rolle, die ihr Image so prägte, dass alles, was Schneider danach spielte, an der verklärten 50er Jahre-Sissi gemessen wurde.
Vicky Krieps, spätestens seit Phantom Thread von Paul Thomas Anderson ein internationaler Star, wird nicht auf dieses Problem stoßen. Die Faszination mit der Figur war für die Mimin schon länger da. Sie war es, die an Marie Kreutzer herantrat, den Stoff neu zu verfilmen. Bei weitem nicht die ersten seit den Romy Schneider Werken, versuchen die Damen weniger einen Kostümfilm und Historizismus anzustimmen, sondern die Zeitlosigkeit der Geschichte zu betonen.
Warum ihr den Film auf jeden Fall sehen solltet, lest ihr hier.
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1877. Kaiserin Elisabeth (Krieps) hat ihre Pflicht für das Land getan, ihm Erben geschenkt und existiert nur mehr für repräsentative Pflichten. Außerdem feiert die Herrschergemahlin ihren 40. Geburtstag und gilt somit als alte Frau. Wie ihr der Arzt sagt, nur die wenigsten Frauen aus dem Volk erreichen dieses Alter. Doch neben ihrem schwierigen Status als “alte, verbrauchte” Frau am Hof, wie die Zeitungen immer wieder aufgreifen, ist da auch noch Elisabeths Unabhängigkeitsdrang. Die Liebe zu Franz Joseph I (Florian Teichmeister) ist bereits eingerostet. Der konservative Kaiser ist auch wenig interessiert an den progressiven Ansichten seiner Frau, die sie immer wieder versucht einzubringen. Für ihn soll sie genau das sein, was das Volk erwartet: Eine schöne, anmutige Frau, deren Outfits den Klatsch in Wien bewegen und die in ihrer überwältigenden Schönheit den Mund nicht aufmacht.
Gefangen zwischen höfischer Repräsentanz, dem Verlust ihrer Jugend, ihrem Hauptasset am Hof, sowie in der Hoffnung, Lieblingskind Marie Valerie (Rosa Hajjaj) nach eigenen Vorstellungen zu erziehen, macht die Kaiserin unruhig eine Reise nach der anderen. Stationen sind dabei unter anderem Ungarn, Bayern und England. Sie besucht ehemalige Liebhaber, bricht mit Vertrauten und trifft, um den Punkt noch weiter zu verdeutlichen, auf lauter zeitlose, anachronistische Visualisierungen einer Frau auf der Suche nach sich selbst.
“Das ist Lady Spencer”, werden Elisabeth und ihre Entourage auf einer Reise nach England einer adeligen Dame vorgestellt. Spätestens da ist klar, dass Corsage keine klassisch-historische Dramatisierung des Lebens der Kaiserin sein will. Der Film ist stattdessen eine zeitlose, allgegenwärtige Verhandlung des Drucks einer Frau, aus den ihr auferlegten gesellschaftlichen Fesseln auszubrechen. Immer wieder bricht der Film von Marie Kreutzer mit der historischen Realität und führt anachronistische Elemente ein, wie Türen oder technologische Fortschritte. Dass Elisabeth 1877 bereits mit einer Bewegtbildkamera filmte, scheint sehr unwahrscheinlich. Aber das zu Beginn noch stumme Medium, die Unsterblichkeit auf einer Filmrolle verewigt zu werden, und gleichzeitig dem Zuschauer so fern zu bleiben, ist der perfekte Symbolismus einer Frau, die immer im öffentlichen Blick bleibt, und dennoch so fern scheint.
Vicky Krieps beweist erneut, was für eine starke Darstellerin in ihr steckt. Nicht umsonst gewann sie bei den Filmfestspielen von Cannes den Preis für die beste Darstellerin. Ihre Sisi ist weit vom vergangenen Kitsch entfernt, eine Kämpferin um ihr eigenes Leben, und dennoch nicht immer Herrin ihrer Umstände. “Marie Valeries Heimat ist Ungarn”, exklamiert sie einmal bestimmt gegenüber ihrem Mann, nicht beachtend, dass die Tochter diese Drängung in die Rolle einer “ungarischen Prinzessin” bereits zu verachten begonnen hat. “Du phantasierst”, antwortet Franz Joseph.
Man mag mit Sisi, Prinzessin Diana und vielleicht auch mit Meghan Markle mitgelitten haben. Oder finden, dass das die dramatisierten Probleme der oberen 1 Prozent sind. Corsage versucht beides zu zeigen. Eine starke Frau, die sich gegen die patriarchalen Erwartungen ihrer Welt stellt und ihr eigenes Glück sucht. Aber auch eine Frau, die nie ganz aus der Welt ausbrechen kann oder will, in die sie sich hineinbegeben hat. Und der Film schafft das, ohne hier kämpferische pseudo-feministische Manifeste vom Band zu lassen. Elisabeth ist eine starke Frau, weil sie ein Mensch ist. Kreutzer und Krieps lassen ihre Version der Figur nicht von einer Idee oder Institution vereinnahmen. Sie gehört nur sich.
Corsage ist eine spannende, gegen den Strich gebürstete Version der Sisi-Legende. Egal wie man zur Kaiserin steht, aufgrund ihrer Zeitlosigkeit bietet der Film für alle einen Einstiegspunkt in eine Geschichte über Unabhängigkeit und Selbstfindung.
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Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.