Die neue Candyman-Version von Nia DaCosta wächst über ihre ursprünglichen Wurzeln als Slasher hinaus und zeigt uns in einem nachdenklich stimmenden Drama-Horror-Thriller, wie rassistisch motivierte Gewalt rachsüchtige Geister produziert. Mehr liest du in der Kritik zu Candyman (2021).
Von Sophie Neu
26. August 2021: Neben Michael Myers und Freddy Krueger ist der Candyman wohl eine der bekanntesten Horrorfilmfiguren. Fünf Mal muss man seinen Namen im Spiegel sagen, dann taucht er auf und tötet einen. Nia DaCosta holt aber aus der urbanen Mythenfigur mehr heraus als nur einen Slasher für Horrorfans. Sie konstruiert im Laufe der 91 Filmminuten die düsteren Ursprünge eines Dämons, der die Schmerzen kollektiver Diskriminierung und böswilligster Verfolgung Schwarzer durch Weiße in sich trägt und auf Rache sinnt. Ihre Erzählung gelingt nicht zuletzt dank Protagonist Anthony (Yahya Abdul-Mateen II), der aus seiner unbedarften Künstlerszene hinab in die Abgründe der historischen und andauernden rassistischen Gewalt an Afroamerikanern in den USA gerissen wird.
Zum heutigen Kinostart erklären wir euch, warum es geht und sich der Weg ins Lichtspieltheater eures Vertrauens auszahlt.
Anthony (Abdul-Mateen II) und seine Frau Brianna (Teyonah Parris) sind eigentlich überglücklich in ihrer frisch bezogenen Wohnung in Chicago. Alles ist brandneu, topmodern und für das aufstrebende Paar aus der Kunstszene perfekt geeignet. Doch während Brianna als Kuratorin bei Ausstellungen ein verlässliches Einkommen hat, steckt Künstler Anthony in einer Schaffenskrise. Seine bisherigen Bilder überzeugen nicht mehr. Um an einer Ausstellung teilnehmen zu können, braucht er etwas Neues. Nachdem er von Briannas Bruder Troy (Nathan Stewart-Jarrett) erfährt, dass seine hippe Wohnung auf den Gründen von Cabrini-Green (einer ehemaligen afroamerikanischen Nachbarschaft) steht, will er mehr über deren Geschichte erfahren. Gerade die gruselige Legende vom Candyman fasziniert ihn sehr.
Nachdem er dessen Namen fünf Mal in den Spiegel gesagt hat, beginnt er merkwürdige Dinge zu sehen. Gleichzeitig hilft ihm der urbane Mythos enorm bei seiner Kunst und er produziert ein Werk, das es in die Kunstausstellung schafft. Der Spiegel mit dem Aufruf „Say My Name“ lädt dazu ein, den Dämon zu beschwören. Nach anfänglichem Spott müssen der Kurator und seine Praktikantin aber feststellen, dass am Candyman mehr dran ist als nur ein urbaner Mythos.
Das Spannendste an Candyman ist interessanterweise nicht der Slasher-Horror, sondern Anthonys Abtauchen in die Vergangenheit. Nach und nach wird ihm klar, dass der Candyman, der ihn begleitet, nur eine von vielen Verkörperungen eines rachsüchtigen Kollektivs ist. Und die sucht Vergeltung für die an seiner Gemeinschaft begangenen Verbrechen. Dabei verdeutlicht DaCoste geschickt auf zwei Arten Anthonys Veränderungsprozess. Einerseits in seiner Kunst, die immer verstörender und düsterer wird. Andererseits in seiner Erscheinung. Kleidung, Körperpflege – alles Äußerliche von Anthony nimmt immer weiter ab. Am stärksten zeigt sich der Rachegeist, der Anthony in Besitz nimmt, aber am Bienenstich. Der breitet sich progressiv über seinen ganzen Körper aus, eitert und frisst Löcher in seine Haut (Menschen mit Trypophobie seien gewarnt). Abdul-Mateen II verkörpert derweil perfekt Anthony, der irgendwo zwischen verzweifeltem Ehemann auf dem Weg nach Rettung und besessenem Künstler, den sein Werk auffrisst, schwankt.
Derweil folgt ihm der Candyman auf Schritt und Tritt, allen Weißen ein Ende bereitend, die seine Legende belächeln und ihn beschwören. An Blut, aufgeschlitzten Hälsern und verdrehten Gliedmaßen wird aber im Vergleich zu anderen Slasher-Filmen gespart. Zwar stimmt uns das Schicksal des Kurators gleich zu Anfang auf brutale Gewaltakte ein. Insgesamt treten Splatter-Szenen aber in den Hintergrund. Oft wird das Schicksal der Candyman-Opfer nur angedeutet. Fünf hochmütige Teenager nach ihrer Candyman-Mutprobe am Schul-WC erleben wir nur durch den Schlitz unter der Toilettenkabine. Es tropft Blut, Knochen knacken und kurze Schreie verhallen. Das war’s. Den typischen Gore und auch Body Horror finden Zuschauer stattdessen bei Anthonys körperlichen Veränderungen. Für Splatter-Fans ist das geringere Maß vielleicht betrüblich. Aber im Endeffekt tut es Candyman gut, sich auf den Horror des in der Realität fundierten Rassismus gegenüber Afroamerikanern zu konzentrieren und die Botschaft nicht zu sehr mit Blut zu verwässern.
Das wahre Highlight des Films ist es aber, wie DaCosta uns allmählich davon überzeugt, dass nicht das Monster das wahre Übel verkörpert. Die Ursprünge einer jeden Version des Candymans finden sich nämlich in brutalen Morden durch rassistische Weiße an unschuldigen Afroamerikanern. Vom Lynchmob, der einen schwarzen Künstler verfolgt, bis hin zu brutalen Polizistentruppen, die schießen, ohne Fragen zu stellen – der Candyman verkörpert nichts anderes als das kollektive Gedächtnis einer immer wieder geschändeten Gemeinschaft. An Genialität grenzt fast schon der Schluss, in dem DaCosta kurz die Hoffnung aufkeimen lässt, dass sich die Verhältnisse verbessert hätten.
Candyman ist einer der sehenswertesten Slasher-Horrorfilme seit langem. Auch wenn der Slasherpart durch die Sozialkritik immer wieder in den Hintergrund rückt, erschafft DaCosta doch eine überzeugende Legende rund um die ikonische Horrorfigur. So verlässt man den Kinosaal nicht nur mit Ekel über Gore, sondern auch über den Rassismus in unserer Gesellschaft.
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Die Journalistin ist bei Videospiel-Tests und Wien Guides voll in ihrem Element. Seit 2021 verstärkt sie die Redaktion des KURIER.