Zur Abwechslung ist der Buchtipp diesen Monat einmal kein Roman, sondern ein Gedichtband. Die Lyrik kommt leider traditionell in den Verkaufszahlen und in der Literaturkritik viel zu kurz. Dem soll ein kleines bisschen Abhilfe geschaffen werden. Und womit geht das besser als mit dem großartigen Lyrikband azur ton nähe – flussdiktate von Siljarosa Schletterer?
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
30. Juni 2022: Flüsse sind die Lebensadern dieser Welt. Sie verbinden die Menschen seit jeher, spenden Nahrung, Trinkwasser, an ihnen reihen sich unsere Städte auf wie Perlen an einer Kette. Sie sind aber auch Grenzen, können zu Todesfallen werden. Gewässer inspirieren immer schon die Schreibenden und scheinen ihre eigene Persönlichkeit zu haben. Und zu solchen macht Siljarosa Schletterer sie auch – Persönlichkeiten. Sie erzählt von den Flüssen als Lebewesen und Lebensorten, als Protagonisten anstatt bloß als Kulisse.
Siljarose Schletterer dichtet die Flüsse in ihrem Gedichtband nicht als Objekte, nicht als Naturphänomene, die beschrieben werden sollen, die eine Szene bestimmen, wie in einem Reiseroman des 19. Jahrhunderts. Sie nähert sich ihnen assoziativ an. Als Lebewesen, die sie im Moment der Wahrnehmung festschreibt. Ihr Blick auf ihre Subjekte ist ein emphatischer. Die Emotionen rangieren von Bewunderung bis Mitleid, aber über allem steht ein tiefgreifender Respekt. Sie findet dafür klare und fließende Worte, die sich an den Ufern entlang schlängeln, die Flüsse kurz streicheln, um sie dann wieder ungestört zurückzulassen. Es ist, als trinke man einen kleinen Schluck aus den Wassern des jeweils genannten Flusses und schmecke seine Essenz – oder erahne sie.
Die drei Kapitel, in die sich der Band unterteilt, stellen eine einzige Bewegung da. Die Bewegung von außen nach innen oder von fern nach nah. Im ersten Kapitel azur wird noch viel mehr beschrieben, viel mehr über die Zustände der Gewässer reflektiert und dem, was vorgefunden wird, Emotionen entgegengebracht. In den darauffolgenden Kapiteln wandelt sich mehr und mehr das Verhältnis zwischen Dichterin und Dichtung. Es sind die Flüsse, die Emotionen anhand erinnerter oder in der Gegenwart erlebter Situationen und Gedanken in die Dichterin hineinprojizieren. Es sind diese Gedichte, aus denen die Flüsse beinahe aus dem direkten Blick verschwinden und sich bloß in den Blick der Dichterin auf die Welt und auf ihre Szenen einschreiben, in denen man sie als mehr als bloß von ihrer Umwelt, ihrer Geschichte und vom Eingriff der Menschen bestimmte Phänomene begreift. Im Unsichtbaren werden sie bedeutsam.
Gepaart sind die Gedichte in dem Band mit Illustrationen aus der Hand von Franz Wassermann (welch passender Name). Die Bilder fügen sich unaufdringlich in das Geschriebene ein. Diffuse Phantome, deren abstrakte Bildersprache sich um einen stets erstaunlich konkreten Kern schmiegt. Dabei immer zu spüren: die Ehrfurcht vor dem Wasser und gleichzeitig eine gewisse Traurigkeit oder fast schon Nostalgie dem stromabwärts entschwindenden Gegenüber.
azur ton nähe – flussdiktate ist ein wunderschöner, geistreicher Gedichtband voll Sprachkunst und Emotion, der seinem Thema das richtige Maß an Aufmerksamkeit, Begeisterung und Respekt entgegenbringt. Eine Empfehlung für alle Lyrikliebhaber.
azur ton nähe – flussdiktate (Limbus Lyrik) von Siljarosa Schletterer ist seit 25. März überall im Handel erhältlich
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Alle Fotos (c) Christina Vettorazzi, Limbus Verlag, heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.