60 Prozent Tragik, 40 Prozent Schmäh. Die preisgekrönte Doku Aufzeichnungen aus der Unterwelt lässt uns tief in die Gräben der Wiener Seele blicken. Sie erzählt wilde Nachkriegsgeschichten aus der Sicht zweier alten Gauner. Dabei muss jeder selbst seine Wahrheit zwischen korrupten Behörden und “Gerechtigkeit suchenden Familienmenschen” finden. Lest unser Review und gewinnt 2×2 Kinokarten für dieses geniale Stück Zeitgeschichte.
von Christoph König
Ein Mann mit Schusswunde zwischen den Augen wird von einem grimmigen Kraftlackel aus dem Auto gezerrt und den Sanitätern vor die Füße geworfen. Noch bevor diese eine Erklärung bekommen, ist der “Helfer” schon wieder weg. Mit seinem blutverschmierten Boliden taucht er im Schneegestöber unter.
Was nach einem Tarantino-Streifen klingt, hat sich in den 60er Jahren tatsächlich in Wien vor dem UKH Meidling abgespielt. Der bullige Kerl war Alois Schmutzer. Der andere, Toni Österreicher, stand im Bandenkrieg eigentlich auf der Gegenseite. Doch die Gauner von damals hatten offenbar gewisse Prinzipien und spielten nach ihren blutigen Fehden immerhin noch Krankenhaus-Taxi – zumindest für die Feinde, die man sympathisch fand. Österreicher überlebte tatsächlich und wenn er seine Geschichte heute grinsend in der Konditorei erzählt, ruft er den ins Lokal kommenden Gästen zwischendurch ein fröhliches “Hallo, Serwas!” zu.
Die dramatischen Szenen, die so auch in Chicago passieren hätte können, spielen sich nur in unserem Kopf ab, denn in der Doku Aufzeichnungen aus der Unterwelt werden sie uns von den Hauptdarstellern von damals erzählt. Das aber so lebendig und mit Emotion, das wir uns mittendrin fühlen. Wir haben den Film, der mit einer Romy und dem Diagionale-Preis für die beste Kinodoku und Produktion ausgezeichnet wurde, bereits im Vorjahr für euch gesichtet. Wegen Corona verschob sich der Kinostart des brillanten Streifens im Stadtkino aber weit nach hinten. Am 10. September ist es aber endlich so weit!
In unserem Review verraten wir dir, was ihn so sehenswert macht und verschenken dazu 2×2 Karten für eine Vorführung im wunderschönen Wiener Stadtkino – denn für einen tollen Wiener Film braucht es auch das passende Ambiente. Einfach am Ende des Artikels eintragen und die Teilnahmebedingungen erfüllen.
Tizza Covi und Rainer Frimmel haben mit Aufzeichnungen aus der Unterwelt Großartiges geschaffen. Sie zeichnen das Bild eines Nachkriegsösterreichs, das man so nicht kennt – aus der Sicht eines “Stoss”-Ganoven (so hieß das illegale Kartenspiel, mit dem in den Beisln Schmutzer und Co. ihre Opfer um ihr letztes Hemd erleichterten) und seinem Freund, dem Sänger Kurt Girk (während der Schlussproduktion des Films leider verstorben). Dabei wissen sie zu überraschen. Denn die Taten der bösen Buben stehen dabei nicht unbedingt im Mittelpunkt. Auch wenn die Protagonisten über die eine oder andere launig berichten, schweigen sie sich mit Details darüber eher aus. Und im Ausschweigen sind sie naturgemäß Meister. So bleibt es dem Zuseher selbst überlassen, diese Aussparungen mit der Vorstellungskraft zu füllen.
Tatsächlich wachsen einem die beiden Figuren, die nun gemeinsam im Wirtshaus Wiener Lieder schmettern, mehr und mehr ans Herz. Muss man zu Beginn noch herzlich lachen, wenn Schmutzer sagt, dass es sowas wie eine Unterwelt in Wien ja gar nicht gab und ihn seine Schwester als “Familienmensch mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn” beschreibt, wird im Laufe des Films mehr und mehr klar, wie übel es vor allem dem Stoss-König der Unterwelt selber mitgespielt hat. Eher nüchtern erzählen sie von Schrecklichkeiten in ihrer Kindheit. Von jüdischen Freunden, die sich während der Naziherrschaft umgebracht haben. Von Familienmitgliedern deren Galgenfrist sie im KZ mit Geschenken an die Wärter verlängern konnten. Oder vom traurigen Tod von Schmutzers Vater.
Das Ganze ist aber nur der Prolog. Im Kern dreht sich der Film um die Verbrechen der eigentlichen Ordnungsorgane, Polizisten, die ungestraft jeden verprügeln, der ihnen querkommt und einem korrupten System, das am Kopf (Richter) zu stinken beginnt. Denn Schmutzer fasst schließlich für Anstiftung eines Postraubs 10 Jahre Haft aus, den er gar nicht begangen hat. Offensichtlich wissen sich die Polizisten gegen den Prügler nicht anders zu wehren.
Als sie seinen Bruder Norbert verhaften wollen, boxt ihn Alois wieder aus den Fänger der Beamten – ein alter Holzofen soll hier eine entscheidende Rolle gespielt haben. Nach dem Postraubprozess sperren sie ihn zu Massenmördern. Dabei brauchen die Wachbeamten schon fast Kriegsgerät, um ihn in den Hochsicherheitstrakt nach Stein zu transferieren. Denn Schmutzer wehrt sich mit seinen durch harte Arbeit im Waldviertel und als Fleischhauer gestählten bärenstarken Händen und Füßen (Waffen benötigt er nie) gegen jede Ungerechtigkeit, die ihm im Leben widerfährt.
Dass er im Film überhaupt zu Wort kommt und bei der Berlinale-Premiere unter Applaus der 500 Gäste gerührt vor das Publikum treten konnte, ist der Hartnäckigkeit von Rainer Frimmel zu verdanken. “Ich wusste nur, dass er jede Woche am Meidlinger Markt sein soll. So habe ich dort jeden Samstag nach einem Mann mit riesigen Händen Ausschau gehalten.” Ein Kaffeetscherl später war Frimmel mit dem Loisl schon befreundet. Und so hören wir jetzt die Geschichte aus der Sicht der bösen Buben. Eine, die sich ganz anders anhört als in den schlagzeilengeilen Boulevardmedien, die sich damals wie Geier darauf stürzten.
Bis auf den tragischen Prozess und die Zeit im Gefängnis, bei dem wir das skandalöse Vorgehen der Behörden von einem Anwalt und einem Wärter bestätigt bekommen, muss dabei jeder selber entscheiden, inwieweit er den Versionen der alten Gauner glaubt. Und es bleibt der Vorstellungskraft überlassen, was Schmutzer wirklich aufgeführt hat, beispielsweise als er der Kronen Zeitung, wütend über deren Schlagzeilen, persönlich einen Besuch abgestattet hat. Es wird wohl nicht bei einem freundlichen “Hallo, serwas!” geblieben sein.
Dieses Gewinnspiel ist beendet. Aktuelle Gewinnspiele findest du hier!
In unserem Seher-Bereich findest du noch mehr Kritiken und Vorschauen zu Kinofilmen, aber auch zu Serien und Produktionen der Streaminganbieter. Plus: Die besten Filme von Schauspiellegenden, Rankings und Bestenlisten:
10 starke True-Crime-Dokus auf Netflix
6 heiße Streaming- und Kino-Tipps im August
Alle Fotos: (c) Stadtkino Filmverleih
Der Chefredakteur der Helden der Freizeit hat das Onlinemagazin 2016 ins Leben gerufen und ist seit 2000 als Sportjournalist im Einsatz. Bei heldenderfreizeit.com ist er spezialisiert auf actiongeladene Outdoor-Aktivitäten, Ausflüge, Videos, Spiele, Filme, Serien und Social Media.