Bastion, eine fruchtbare Welt geprägt von dichtem Urwald, stark abfallenden Klippen, bezaubernden Wasserfällen und blutrünstiger Fauna. Mit ein paar schwebenden Felsen würden sich die Na’vi aus Avatar ganz zuhause fühlen. Statt blauen Aliens spielen wir in Anthem einen Freelancer – Pilot eines Javelins, einem fliegenden Kampfanzug (Iron Man wäre neidisch). Warum wir damit leider immer wieder am Boden der Realität landen, erfahrt ihr in unserem Review.
von Christoph Geretschlaeger, 24. 2. 2019
Alles fängt so spannend an. Wir stecken mittendrin in der Schlacht unseres Lebens. Im Herzen eines kataklysmischen Sturms droht ein Artefakt (das Anthem of Creation) die Welt von Bastion zu zerstören. Am Weg dorthin streiken unsere Flug-Systeme und wir müssen erst wieder gehen und springen lernen. In der Zwischenzeit reißt eine Armee Titanen (dickgepanzerte, Feuerbälle werfende Zeitgenossen der unfreundlichen Sorte) unsere Einheit auseinander. Genug vom Tutorial absolviert funktionieren unsere Triebwerke wieder. Gerade rechtzeitig um Mentor Haluk das Schicksal zahlreicher anderer Freelancer zu ersparen.
Richtig glücklich scheint Haluk über die Rettung nicht zu sein, ist er sich doch sicher, das Blatt noch wenden zu können. Richtig happy bin ich auch nicht darüber, dass wir nach dem packenden Intro zwei Jahre in die Zukunft springen. Der Ruf der Freelancer hat empfindlich gelitten seit der brutalen Niederlage. Wir sind auf uns allein gestellt und halten uns mit kleineren Aufträgen über Wasser, in der Hoffnung eines Tages in den noch immer wütenden Sturm vorzudringen und unsere Mission abzuschließen.
Nach dem Tutorial bzw. dem Intro suchen wir uns einen der vier Kampfanzüge aus. Der Interceptor ist schnell wie ein Abfangjäger, stark im Nahkampf und außerordentlich wendig. Colossus hingegen ist dick gepanzert, etwas schwerfällig, kann aber richtig viel einstecken, besonders mit seinem Schild. Storm hat einen feschen Umhang und schwebt gerne über dem Schlachtfeld, das der Anzug mit allerlei Elementareffekten bombardiert. Der Ranger ist ein Mittelding, hält ein bissl was aus, wirft Granaten und kann Freunde mit einer Kuppel vor feindlichem Kugelhagel beschützen. Auf den Levels 2 (direkt nach dem Intro), 8, 16 und 26 sucht man sich jeweils einen neuen Javelin aus.
Gefesselt von der Story starten wir unsere Abenteuer in Bastion. Die anfängliche Begeisterung ebbt jedoch schnell ab. In unserem Hauptquartier, Fort Tarsis, schleichen wir langsam (da bräuchte keine Schildkröte Verstärkung, um uns zu schlagen) durch die orientalisch angehauchten Gassen. Im Schneckentempo beim Gesprächspartner angelangt, blinzeln uns wunderschön animierte Charaktere an. Gesichts-/Gesprächs-Technologie die schon im vorigen Bioware-Spiel Mass Effect: Andromeda zum Einsatz gekommen ist, wurde gut weiterentwickelt und wirkt sehr natürlich. Nicht natürlich ist die verkrampfte Haltung unserer Gegenüber, jeder NPC starrt direkt in die Kamera (wir in Ego-Perspektive) und bewegt sich – mit ganz wenigen Ausnahmen – nicht vom Fleck. Wirklich schade. Die exzellente Vertonung, besonders die weibliche Hauptdarstellerin auf Englisch, lässt erahnen, wieviel Arbeit eigentlich in Anthem steckt.
Missionen führen uns an alle Enden der (relativ kleinen, aber sehr vertikalen) spielbaren Welt von Bastion. Ein kleiner Hops, Zündung der Triebwerke und wir fliegen schon. Meine erste Wahl war der bewegliche Interceptor. Aus unerfindlichen Gründen, außer vielleicht um den Spielspaß zu minimieren, überhitzen die Javelins jedoch schnell. Immer wieder müssen wir eine Pause einlegen, den Anzug abkühlen und düsen dann erst wieder Richtung Ziel. Versprengte Wasserfälle und kurze Tauchpassagen kühlen die Iron-Man-Outfits ab. So werden Ausflüge zum Suchspiel nach Wasser – findet man einen guten Pfad ist es ein erhabenes Gefühl. Denn das Fliegen macht in Anthem richtig Spaß. Mehr Spaß auf jeden Fall als das Schießen.
Anthem ist ein Shooter den wir unterwegs in Third-Person-Perspektive, in der Stadt in First-Person erleben. Blöderweise fühlt sich das Schießen nicht sonderlich befriedigend an. Die Waffen lassen Nachdruck vermissen. Plink, plink, plink, Zahlen leuchten auf, der Gegner fällt um. Nie erreichen Schüsse die Wucht eines Destiny. Dazu sind die automatischen Waffen auch noch ziemlich ungenau. Aber ein Rollenspiel ist es doch auch, bestimmt gibt es einen Talentbaum mit dem die Zielgenauigkeit verbessert wird. Nö, in einer frühen Entwicklungsphase war das mal angedacht, im finalen Produkt gibt’s es (noch) nicht. Als „Live-Spiel“ (was auch immer das heißen mag) könnten jederzeit ein neuer Talentbaum oder neue Waffen eingeführt werden. Und gerade Letzteres ist bitter notwendig.
Lädt man gerne nach, sind Sturmgewehre oder Maschinenpistolen ideal. Leichte Maschinengewehre fühlen sich genauso wie Sturmgewehre an, nur haben sie größere Magazine. Schrotflinten gibt’s, schwere Pistolen und Scharfschützengewehre. Erst spät im Spiel lootet man Waffen mit interessanten Eigenschaften, ein Scharfschützengewehr etwa das schwebend mehr Schaden macht. Doch bis Level 30, was gut 25 Stunden dauern kann, wird mit den gleichen alten Waffen gekämpft.
Gut, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, um Schaden zuzufügen. Jeder Javelin hat seine eigenen Fähigkeiten, und von Missionsbelohnungen oder Rezepten winken eine ganze Reihe neuer. Der Interceptor kann eine Gift-Granate werfen, Storm Gegner brennen lassen oder einfrieren und Colossus stürmt mit seinem Schild durch Gegnerscharen. Gemeinsam lassen sich witzige und ausgesprochen tödliche Combos finden.
Nachdem es sich um ein Bioware-Spiel handelt, dem Studio hinter Rollenspielen Baldur’s Gate, Mass Effect und Dragon Age, fragt man sich, ob auch Anthem RPG-Elemente hat. Nicht wirklich. In den Gesprächen mit den starren NPCs werden wir immer wieder vor zwei Auswahlmöglichkeiten gestellt. Mal schnippisch, mal einfühlsam aber nie wirkungsvoll. Storymäßig gibt es viele interessante Ansätze, manche Sequenzen fesseln einen regelrecht – nur damit die Geschichte im nächsten Augenblick wieder komplett zum Stillstand kommt. Und nur damit man für den weiteren Fortschritt 5 World Events (kleinere, dynamisch generierte Missionen in der Welt) abschließen oder 15 Truhen (als Belohnung für abgeschlossene Missionen) öffnen muss. Solche Blockaden gibt es im Spiel leider einige. Oh, dich hat grad die Story gepackt? Schade eigentlich, erfüll‘ mal diese sinnlosen Aufträge. Und mit langsamem Kriechen durch die Stadt muss jeder Brocken Geschichte hart erarbeitet werden.
Anthem sieht umwerfend aus. Dichter Regenwald, steile Klippen, eine beeindruckende Vertikalität. Besonders abwechslungsreich ist Bastion jedoch nicht, es gibt nur eine Klimazone und ein paar Höhlen. Die Javelins sind dafür wunderschön detailliert animiert und lassen sich nach Belieben anmalen und sogar die Texturen ändern, von Plastik zu Metall zu Carbon. Die Ladezeiten halten sich auf einer SSD noch in Grenzen, auf den Konsolen ist das Warten hingegen brutal. Blöderweise gibt es sogar innerhalb von Missionen immer wieder Ladebildschirme, vor allem wenn ein Gruppenmitglied (alle Missionen bestreitet man zu viert, automatisch aufgefüllt mit anderen Spielern) schon näher am Ziel ist. Bist du zu weit von deiner Gruppe, taucht eine große Warnung am Bildschirm auf: du hast 20 Sekunden um zu deinem Team aufzuschließen. Hast du bis Ablauf der Zeit nicht den richtigen Checkpoint erreicht, wirst du mit einem Ladescreen bestraft.
In unserem Test ist Anthem vier- oder fünfmal abgestürzt. Die Schuldigen waren schnell gefunden, die Origin-Server. Verliert man auch nur ganz kurz die Verbindung wird man aus dem Spiel geschmissen. Besonders bitter am Ende eines knackigen Strongholds (wie ein Destiny-Strike), der gesamte Fortschritt ist weg und es gibt keine Möglichkeit der Gruppe wieder beizutreten. In ein paar Fällen haben auch Checkpoints nicht richtig ausgelöst, Gegner sind immer wieder und immer wieder aufgetaucht, nur ließ sich der rettende Hebel nicht betätigen. Nach gut 10 Minuten wollte ich meiner Gruppe mitteilen dass meine Geduld am Ende ist, blöd nur, dass es keinen Text-Chat gibt, nur mit Mikrofon oder halblustigen Gesten kann man überhaupt mit seinen Teamkollegen kommunizieren. Nicht einmal Wegpunkte auf der Karte kann man setzen.
Noch selten habe ich mich durch ein Spiel so durchgequält wie Anthem. Es sieht fantastisch aus, es steckt so viel Potenzial drin. Fliegen macht richtig Spaß, besonders mit der Vibration eines Controllers. Mit Freunden durch die Luft sausen und dabei tolles Loot aufspüren, das klingt richtig gut. Nur ist das Gefühl, der Rückstoß und die Auswahl, der Waffen total unbefriedigend. Nicht zu reden von der eintönigen Missionsstruktur und dem ewigen Schleichen durch die Stadt. Oder vom begrenzten Inventarplatz, der einen ständig zum Entzaubern zwingt, was wiederum stundenlang dauert, weil immer zuerst zum Origin-Server nach Hause telefoniert werden muss. Die Gegner-KI ist oft überfordert, die mit Level 30 freigeschalteten Schwierigkeitsgrade, die einfach nur den Gegner-Schaden und -Lebenspunkte erhöhen, machen mir da auch keine Hoffnung.
Besonders nerven die immer neu auftauchenden Hürden im Spielverlauf. Hatte Bioware es wirklich nötig seine Geschichte immer wieder zu unterbrechen, um die Spielzeit künstlich in die Länge zu ziehen? Irgendwo da drin stecken ein paar Stunden Spielspaß. Schade nur, dass ich 25 spielen musste, um sie zu finden.
Für März ist aber schon das erste Content-Update geplant. Neue Missionen, möglicherweise neue Gegner (die jetzige Auswahl ist schon sehr trist) und das Anthem-Pendant zu einem Raid..
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Bilder: (c) Bioware
Der Grafiker und Art Direktor (Helden der Freizeit, Styria Verlag) aus Wien ist ein absoluter Game- und Film-Kenner. Das zeigt das in seinen Tests und Bestenlisten.