In David Schalkos neuem Roman Was der Tag bringt (KiWi) dreht sich alles darum, was einen Menschen abseits des Berufs oder der Berufung ausmacht und wie er sich in der Gesellschaft definiert und festsetzt. Bei einer derart grundlegenden Frage kann die Psyche schonmal in Mitleidenschaft gezogen werden.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schrifsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
12. Juni 2023: Felix war nie Angestellter, sondern stets Selbstständiger und zuletzt sogar Unternehmer. Sein Unternehmen überlebte aber die Pandemie nicht und jetzt steht er vor einem sozialen und finanziellen Scherbenhaufen. Gott sei Dank besitzt er aber eine hübsche Wohnung in Wien, die er nun einige Tage im Monat vermieten kann. Was tut man, wenn man eine Woche im Monat aus dem eigenen Leben treten muss? Wer ist man, wenn man sein Hauptquartier aufgibt? Eine schier unerschöpfliche Frage, wenn man nicht einmal weiß, wer man normalerweise ist.
David Schalkos neues Buch Was der Tag bringt besteht aus spezialisierten Episoden. Jeden Monat verschlägt es Felix in einen neuen Winkel der eigenen Unsicherheiten. Die Absurdität, Verlorenheit und Getriebenheit nehmen dabei stetig zu – bis an die Grenze des Realismus. Von einer Woche bei einem alten Freund, von dem er sich in die Konflikte und toxischen Fantasien der eigenen Beziehung hineinziehen lässt, bis zur freiwilligen Obdachlosigkeit, einem Zustand vermeintlicher Selbstaufgabe, erforscht Felix alle möglichen Zustände und Philosophien moderner Existenz ohne Heimat.
Dabei haben vor allem die männlichen Charaktere, denen Felix über den Weg läuft, einen Hang zum Philosophieren und Monologisieren. Jeder scheint dem eigenen Dasein einen theoretischen Unterbau geben zu wollen, die eigenen Entscheidungen anhand einer fast zwanghaft argumentierten Rechtfertigung zu legitimieren. Felix hört sich all diese Rechtfertigungen an, saugt sie auf, weil ihm selbst eine solche fehlt. Nur leider bauen sich die Monologe so gut wie aller Charaktere aus einer Flut hohler Aphorismen zusammen, sodass sich für Felix, trotz aller Absorbtion und Nachahmung, kein solides Fundament formt.
In seinem manischen Gedankenfluss finden die Versatzstücke fremder Leben, fremder Gedanken Halt und spiegeln sich oft direkt im folgenden Erleben. Es ist, als wolle Felix gerade Gehörtes oder Gedachtes zwanghaft mit dem, wie sich ihm die Realität präsentiert, in Einklang bringen. Dass das nicht immer zu den klügsten Überlegungen führt, ist auch Grund für seine Haltlosigkeit. Er dreht sich im Kreis um das eigentliche Problem, das sich ihm trotz aller Fremdweisheit nicht erschließen will, weil er bei aller Selbstreflexion nie in der Lage ist, aus dem Kreislauf des Zweifelns auszubrechen.
Wie Felix laufen auch die Lesenden stets Gefahr, Weisheit mit Binsenweisheit zu verwechseln. In ihren Monologen argumentieren die Charaktere oft elegant und drücken sich schön aus, wählen ihre Worte literarisch und gaukeln Wissen und Logik vor. Sie locken uns in ihre Lebensentwürfe. Erst wenn Felix beginnt, diese Verlockungen im eigenen Gedankenfluss zu zerfleddern und sich selbst in der Überstülpung und Vermischung zu dekonstruieren, zeigt sich, wie dünn und prätentiös diese Lebensweisheiten sind, wenn man sie von der Person zu lösen versucht.
Je weiter der Roman voranschreitet, desto weiter entfernt sich die Geschichte von der Realität. Die Episoden drohen sich in unplausible Mini-Krimis zu verwandeln, dabei ist es eigentlich Felix Wahrnehmung und Interpretation der Dinge, die sich dem Wahnsinn und der Absurdität annähern. Wegen der überlebensgroß verzerrten Literarizität so mancher Monologe driftet das Buch von Realität ins Metaphorische, weil auch Felix seine Wahrheit im ständig Ambivalenten und Hintersinnigen sucht.
Damit im Konflikt steht leider manchmal die übermäßig feste Verankerung der Geschichte im Jetzt, die Erwähnung aktueller Ereignisse und deren leider eher seichte Reflexion. Da gibt es ein paar Verweise auf die Pandemie, die nie mehr als eine Rechtfertigung des Plotauslösers wird, oder die Erwähnung von Russlands Krieg gegen die Ukraine, die problematisch formelhaft gerät (es ist lobenswert, sich mit diesem wichtigen Thema auseinanderzusetzen, aber sollte man ihm dann auch den notwendigen Platz und die notwendige Sensibilität widmen). Diese beiden Elemente ketten den Roman, der so gut funktioniert als ein allgemein modernes Bild der Selbstauflösung, an einer bloßen Behauptung von Tatsächlichkeit an, während sie gleichzeitig nicht über den Status eines Verweises hinauswachsen. Das ist schade, weil es gerade die mit dem Zustand ständiger Krise einhergehende Unsicherheit ist, die alle Charaktere treibt, sich vor sich selbst rechtfertigen zu wollen. Somit hätte der Roman die Möglichkeit, sich entweder durch eine tiefere Erforschung der Spezifika zu konkretisieren oder durch eine Abstraktion von realen Krisen zu einer zeitlosen Studie sozialer und psychologischer Neuorientierung zu machen. Der Mittelweg ist eine vertane Chance.
Sprachlich wechselt Was der Tag bringt zwischen manisch repetitiv getriebenem Stream of Conciousness und stetig rasenden Monologen, in denen die Episoden gipfeln, bevor die von den Charakteren über Felix ausgeschütteten “Weisheiten” in seiner Sprache verdaut werden. Die literarische Künstlichkeit von Formulierung und Wortwahl passt wunderbar zum Wunsch der Sprecher und des Protagonisten, alles intellektuell rechtfertigen zu wollen, zur scheinbaren Dauerreflektiertheit ihrer Existenz, und wann immer sich alles dann doch in einen unaufhaltsamen Gedankenstrom verwandelt und aus dem Ruder läuft, wirkt die Haltlosigkeit trotz allen Intellekts umso beeindruckender.
Was der Tag bringt ist ein hochkonzeptioneller, interessanter Roman über die Auflösung des Selbst im Angesicht sozialer Entwurzelung. Wenn das Zentrum des Lebens, Beruf oder Berufung, wegbricht, steht man vor dem nackten Ich. Die Neuinterpretation der Person als die Person selbst, als ihre Wünsche, Triebe, Kränkungen und Spiegelung im Gegenüber. Es ist ein unterhaltsamer und gleichzeitig anspruchvoller Roman, der einen genauen Blick wert ist.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.