Die Schiffreise über den Atlantik und in die Tiefen des Gehirns von Baran bo Odar und Jantje Friese kann nicht an die Komplexität und das Genie ihrer vorherigen Serie anschließen.
von Susanne Gottlieb
Als 2017 die erste Staffel von Dark auf Netflix landete, bedeutete es nicht nur einen Riesenerfolg für den Streamer. Es war auch der Beweis, dass Zuschauer durchaus gewillt sind, komplexen Handlungen mit viel Grips und Hirnschmalz zu folgen, und sich nicht nur leicht berieseln zu lassen. Die Zeitreisegeschichte, die Themen wie Quantenphysik, das Bootstrap Paradox oder das Großvater-Paradox aufgriff, wurde von vielen Publikationen zu einer der besten Serien des 21. Jahrhunderts ernannt. Auch wir waren sehr angetan und nahmen sie in unser Ranking der besten Netflix-Serien aller Zeiten auf.
Nun legen die deutschen Serienschöpfer Baran bo Odar und Jantje Friese mit ihrem Nachfolger 1899 nach. Können sie nochmals ihre Brillanz unter Beweis stellen? Oder versinkt diese Serie hilflos in den Fluten der Irrelevanz?
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Maura Franklin (Emily Beecham) ist eine Frau mit lückenhafter Erinnerung. Andauernd träumt sie von einer Zeit in einem geistigen Sanatorium, dessen Patientin sie gewesen zu sein scheint, und das etwas mit den mysteriösen Machenschaften ihres Vaters zu tun hat. Als sie einen Brief von ihrem verschollenen Bruder erhält, dass dieser herausgefunden hat, was ihr Vater getan hat, und sie ihn in New York treffen solle, besteigt sie im November 1899 das Schiff Kerebros. Sie setzt von London nach New York über.
Mitten in der Reise erreicht die Kerebros ein Funksignal mit Koordinaten. Kapitän Eyk Larsen (Andreas Pitschmann) ist sich sicher, dass es von der vor vier Monaten verschwundenen Prometheus kommt, einem Schwesternschiff der “Kerebros”. Gegen dem Willen der Passagiere dreht er ab und steuert auf die Koordinaten zu. Dort taucht auch nach mehreren Stunden Fahrt die verloren gegangene Prometheus auf. Doch nicht nur ist das Schiff auffällig verfallen, keiner der Passagiere befindet sich an Bord.
Für Maura, die dort ihren Bruder vermutet hatte, eine große Enttäuschung. Doch ganz ohne leere Hände kehren sie und die anderen nicht zurück auf die Kerebros. Etwas Dunkles bemächtigt sich dem Emigrantenschiff, beginnt in die Träume und Gedanken der Passagiere an Bord einzudringen und alte Wunden aufzubrechen. Die Grenze zwischen Realität und Psyche scheint zu verschwimmen. Doch was ist überhaupt real? Und wer zieht dabei die Fäden?
Die Gedanken sind tiefer als der Ozean, erklärt Maura zu Beginn der Serie mystisch. Der Kapitän hingegen hört in seinen Visionen immer wieder ein Kinderlied mit den bedeutungsschwangeren Worten “Die Gedanken sind frei, keiner kann sie erraten”. Es ist sofort klar, worauf es Baran bo Odar und Jantje Friese diesmal abgesehen haben. Statt Zeitparadoxe tauchen sie in die komplexen Mechanismen unseres Gehirns, bauen ihr Rätsel und die Verquickung von Visionen rund um die Fähigkeit der Gedanken sowohl frei zu sein, aber uns auch als Gefangene zu halten.
Das klingt zunächst vielversprechend. Doch irgendwie wirkt die Serie beizeiten, als hätte Netflix auf den Tisch gehauen und gerufen “nochmal das Gleiche bitte”. Denn nicht nur plätschert die Serie handlungstechnisch oft oberflächlich dahin, statt tiefe Gewässer zu durchqueren. Sie wird, mit ein wenig Dark-Vorwissen, in ihren Wendungen und narrativen Mitteln etwas zu vorhersehbar. Der internationale Cast am Emigrantenschiff, das Sprechen in den eigenen Sprachen Englisch, Deutsch, Spanisch, Französisch, Chinesisch oder Dänisch ist spannend umgesetzt. Doch irgendwie verfällt 1899 dabei zu sehr dem Stilmittel, Dramatik rein über lange Gespräche und das Teilen von Gefühlen vermitteln zu wollen. Weg sind die präzisen Dialoge aus Dark. Hier wird teils nur unnötig gelabert.
Emily Beecham als Maura reicht außerdem nicht an Jonas aus Dark heran. Ihre Figur bleibt stets zu distanziert, zu kühl, um hier Sympathien zu entwickeln. Zwar mag ihr Hintergrund mysteriös sein, und ihre Vergangenheit der Schlüssel zu den Ereignissen. Doch als Zuschauer sollte man dennoch einen Einblick in das Seelenleben der Figur erhalten. Womit bo Odar und Friese dafür wieder nicht geizen, sind die überall so geschickt versteckte Hinweise auf Kommendes oder das Rätsel. Allein der Name des Schiffs, Kerebros, enthält Hinweise auf mögliche Erklärungen. Kerebros war der dreiköpfige Wachhund der Unterwelt in der Antike. Muss auch das Schiff als Schwelle zwischen den Welten dienen? Herausfinden wird man das in dieser Staffel natürlich noch nicht. Aber die Frage ist, wie sehr man hofft, das in einer zweiten noch beantworten zu können.
1899 kann mit seiner seichten, manchmal vorhersehbaren Machweise nicht an den Mega-Erfolg von Dark anschließen. Trotzdem ist man als Rätselfan in manchen Momenten doch gut unterhalten.
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Aufmacherfoto: (c) Netflix
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.