Was, wenn deine tiefsten düsteren Emotionen von einem übernatürlichem Wesen ausgelebt werden? Hanna Bergholms Debütfilm Hatching bietet eine düster-atmosphärische Antwort auf diese Frage, mit einer hervorragenden Jungdarstellerin.
von Susanne Gottlieb
27. Juli 2022: Bodyhorror mit ein bisschen Frauen von Stepford, viel altmodischen Special Effects und Puppenarbeit? Kein Problem, dachte sich wohl Hanna Bergholm und packte ihr Spielfilmdebüt damit voll. Ihr feiner nordischer Horror lebt nicht nur von seinen Schauwerten, sondern auch vom talentierten Cast. Wie verraten euch, warum ihr diesen Film auf keinen Fall verpassen solltet.
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Die 12-jährige Tinja (Siiri Solalinna) lebt mit ihrer Familie in einem kleinen finnischen Vorort. Alles scheint auf den ersten Blick perfekt. Ein schön geschniegeltes Haus, die herausgeputzten Familienmitglieder, stets in Pastell und die kreativen und zen-inspirierten Aktivitäten, denen man sich täglich widmet. Doch das ist primär Show für den populären Influencer Kanal der Mutter (Sophia Heikkilä). Hinter den Kulissen herrscht Druck, diese ideale Kulisse am Leben zu erhalten, die Besten der Besten zu sein. Vor allem Tinja plagt sich, der Mutter zu gefallen. Doch selten ist etwas gut genug für sie. Nach einem Malheur mit einem Vogel in der Wohnung, den die Mutter kurzerhand tötet, da er ihre Einrichtung verwüstet hat, hört Tinja eines Nachts ein Geräusch im Wald. Dort findet sie ein einsames Ei, das sie, wegen ihrer Schuldgefühle, auszubrüten beginnt.
Doch etwas ist anders an ihrem Fund. Nicht nur beginnt das Ei immer größer zu werden. Was daraus schlüpft, ist kein Vogel, sondern ein sonderbares humanoider Vogelhybrid. Tinja nennt das Wesen Alli. Es scheint auf seltsame Weise mit ihr verbunden. Denn immer, wenn Tinja mit Wut oder Eifersucht auf etwas und jemanden reagiert, schlägt Alli zu. Dabei beginnt sie, Tinja auch immer ähnlicher zu sehen. Eine Tatsache, die Tinja Angst macht. Aber noch wichtiger, als sich mit ihrem Gefühlshaushalt auseinanderzusetzen ist ihr, ihre ewig kritische Mutter bei den kommenden Gymnastikwettbewerben zu beeindrucken.
Der Druck anderen Menschen zu gefallen bis zur kompletten Selbstaufgabe und Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse – Hanna Bergholm verleiht einer alltäglichen Problematik einen düster-morbiden Charme. Das Ganze als Geschichte einer Mutter und einer Tochter anzulegen, den Druck widerzuspiegeln, den Kinder von seiten ihrer zu erwartungsvollen Eltern erleben, vertieft die warnende Botschaft noch. Was, wenn diese unterdrückten Gefühle ein Monster gebären? Und was, wenn sich dieses Monster nicht als der eigentliche Bösewicht in dieser Geschichte herausstellt? Bergholm weigert sichtrotzdem, alle Schuld auf der Mutter abzuladen. Auch sie, so der Film, hat sich einem Ideal opfern müssen. Eine gewisse Verletztlichkeit scheint auf, die aber sofort wieder von ihren Ansprüchen überlagert wird.
Routinier Heikkilä legt ihre Rolle geschickt an, so dass man sowohl mit der Mutter fühlt als sie auch verachtet. Doch selbst ihr wird die Show von Newcomerin Siiri Solalinna gestohlen. Der Jungstar bietet in seiner Doppelrolle als Tinja und Alli eine Tour de Force der Emotionen. Die schüchterne, stets auf Harmonie getrimmte unterdrückte Gefühlswelt von Tinja, aber auch die wilde animalische Kraft Allis, die dennoch immer wieder die körperliche Nähe ihrer “Mutter” sucht.
Ein weiterer Grund, warum man Hatching nicht verpassen sollte, sind die altmodisch-brillianten Special Effects. Hier wird kaum mit CGI gearbeitet, sondern die anfangs vogelähnliche Erscheinung Allis mit Puppen und Make-Up Effekten erzeugt. Dazu holte sich Bergholm Hilfe von in der Filmindustrie gut etablierten Namen, wie den Animatronic Designer Gustav Hoegen (Doctor Who, Prometheus) und Special Effects Make-Up Künstler Conor O’Sullivan (The Dark Knight). Das Ergebnis kann sich auch sehen lassen. Selten bekommt man noch so alte Handwerkskunst zu sehen, die Kreatur Alli allein ist das Kinoticket wert. Besonders beeindruckend- wie der Titel schon verrät, der Moment in dem sie aus dem Ei schlüpft.
Hatching ist ein gelungener Blick in toxische Familienverhältnisse und die Gefahr, Emotionen zu barrikadieren. Zum Verweilen laden aber neben der tollen Inszenierung und den schauspielerischen Darbietungen auch die Umsetzung der Special Effects Sequenzen ein.
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Fotos: © Polyfilm
Susanne Gottlieb schreibt als Filmjournalistin für die Helden der Freizeit, Kleine Zeitung, NZZ, Standard, TV Media, Filmbulletin, Cineuropa und viele mehr. Sie arbeitet im Filmarchiv Austria, berichtet von diversen Filmfestivals und hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert.