Tobias Sommer spielt in seinem neuen Roman ein Szenario durch, an das wir wohl alle schon einmal gedacht haben. Was, wenn wir uns einfach ein neues Leben kaufen könnten? Würden wir alles stehen und liegen lassen? Und was, wenn unser neues Leben vorher jemand anderem gehört hatte? Diesen Fragen (und noch vielen mehr) geht Das gekaufte Leben auf den Grund.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
22. Mai 2022: Clemens Freitag ist ein Versager, zumindest hält er sich für einen. Er ist bei halb Berlin verschuldet und sieht für sich keine echte Zukunft im Leben – nicht in seinem Leben. Alles, was er hat, ist eine beträchtliche Erbschaft, einige hunderttausend Euro, die er seit dem Tod seiner Eltern vor einigen Jahren nicht angerührt hat. Es fühlte sich falsch an. Aber dann stößt er auf eine Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen kann. Ein ganzes Leben wird versteigert.
Clemens Freitag ersteigert ein Leben, das von Götz Dammwald, einem Büroangestellten aus der tiefsten Provinz. Der Mann will auf Weltreise gehen und alles zurücklassen. Das trifft sich gut, denn auch Clemens will nichts mehr von seinem alten Leben wissen. Die Transaktion wird abgewickelt und los geht die Reise in ein kleines abgelegenes Dorf am See. Obwohl die Dorfgemeinschaft Clemens erstaunlich herzlich und unkompliziert in Empfang nimmt, stellt sich schnell heraus, dass ein fremdes Leben auch fremde Probleme mit sich bringt.
Das gekaufte Leben ist zwar kein reinrassiger Krimi, aber der Versuch, jemand anderes zu werden, beinhaltet die Aufgabe, so manches Mysterium zu sezieren. Und Mysterien gibt es in dem kleinen Dörfchen genug. Diese wirft uns Tobias Sommer aber in gut verzehrbaren Häppchen vor. Kein Schwall von allzu kryptischen Konversationen und verdächtigen Gegenständen. Stattdessen steckt in den Gesprächen und im Inventar des Hauses immer etwas unterschwellig Mehrdeutiges, das uns an allem zweifeln lässt, ohne die Lesenden zu sehr darauf zu stoßen. Überhaupt ist da dieses unbestimmte Gefühl, das der Roman auf jeder Seite weckt: eine Unwirklichkeit, eine Unwahrscheinlichkeit. Dasselbe Gefühl, das Freitag verspürt. Damit folgen wir dem Protagonisten als seine Weggefährten und nicht als Zuschauer.
Das Dorf und das Figurenarsenal sind recht klassisch gehalten. Wie man es aus Dorferzählungen kennt: Jeder kennt jeden, jeder scheint die eine oder andere Leiche im Keller zu haben und echte Privatsphäre gibt es nicht. Das ist zwar nicht frei von Klischees, passt aber genau zur Versuchsanordnung des Romans. Fast wie in einem Theaterstück treten die Charaktere auf und ab und tanzen durch die Geschichte rund um Freitags neues Haus am See. Tobias Sommer umgeht auch einige Stolperfallen, die vielen AutorInnen in ihren Mystery-Erzählungen zum Verhängnis werden. Diese seien hier aber nicht verraten.
Sprachlich vermeidet Sommer zu große Gesten. Die Konstruktion der Sätze und das Vokabular bleiben bei der Sache, lassen sich nicht von den Möglichkeiten der starken Emotionen entführen und sind stattdessen präzise und gemäßigt. Das soll nicht heißen, dass der Stil stumpf oder zu simpel ist, sondern dass er vielmehr im Dienste der Handlung steht. Gute treffende Metaphern und kreative Wendungen finden sich im Roman zur Genüge. Die Emotionen schlagen umso härter ein, weil sie fest mit der Realität verbunden sind.
Lediglich in den Dialogen und an manch anderen Stellen hätte Tobias Sommer den Lesern mehr zutrauen können. Viel zu oft heißt es: sagte Freitag… sagte Lars / Freitag tat dies. Freitag tat dies. Soll heißen, die Orientierung, wer was sagte und wer was tut, wird übergenau beschrieben, als könne man in einem Dialog zwischen zwei Charakteren ohne ständige Erinnerung nicht folgen, wer im Wechsel spricht. Natürlich muss das manchmal sein, aber nicht so oft. Die Stimmen der Personen, ihre Art und Weise zu sprechen und der Inhalt ihrer Aussagen sollte reichen, und das würde es auch hier. Die Stimmen sind stark und diese Stärke sollte man sie ausspielen lassen.
Das gekaufte Leben von Tobias Sommer ist ein starker Roman, der zwischen Krimi und Was-Wäre-Wenn-Experiment hin und her pendelt. Das Dorfmysterium ist zu jedem Zeitpunkt interessant und spannend. Handwerklich solide und inhaltlich toll. Eine Empfehlung.
Das gekaufte Leben (dtv) von Tobias Sommer ist seit 16. Februar überall im Handel erhältlich.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.