Stefan Kutzenberger ist zurück. Nach seinen ersten zwei Romanen Friedinger und Jokerman (hier unsere Rezension) gibt es aus seiner Feder jetzt den dritten Teil der autofiktionalen Trilogie, deren Protagonist sich seinen Namen und Teile seines Lebens mit dem Autor teilt. Gleichzeitig ist Kilometer Null aber auch ein Schritt nach vorne und hinaus in die weite Welt der Literatur.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
22. April 2022: Kutzenberger ist tot – der fiktive natürlich. In der uruguayischen Kleinstadt Santa Maria wurde er erschossen. Dieser Endpunkt steht ironischerweise am Beginn des Romans und markiert damit Kilometer Null von Kutzenbergers Reise, das Ziel. Wie konnte es so weit kommen? Wie kommt Kutzenberger, der Österreichische Schrifsteller, nach Santa Maria in Uruguay? Und warum sollte ihn jemand erschießen? Diesen Fragen widmet sich das Buch. Alles nimmt im Festsaal der Universität Wien seinen Anfang.
Zum 85. Todestag des berühmten Schrifstellers Stefan Zweig beschließt der OSZE Chair of Literature einen großen Künstleraustausch zwischen dem deutschsprachigen Raum und Lateinamerika. Auch Kutzenberger soll dabei sein, und im Rahmen eines Festakts inklusive langatmiger Reden werden die Paare bekanntgegeben. Immer ein Mann und eine Frau, was die Künstler:innen selbst für ein etwas antiquiertes Konzept halten. Kutzenberger wird eine Uruguayerin zugeteilt. Zuerst drei Wochen in Europa, dann drei Wochen in Lateinamerika. Während alle anderen Paarungen in luxuriösen Hotels und malerischen Orten untergebracht werden, hat Kutzenberger das Glück, in die bekanntermaßen schönste Stadt Österreichs geschickt zu werden: Wels. Darüber ein wenig enttäuscht, macht er sich dennoch mit seiner Schreibpartnerin auf die Reise, und nach einem erkenntnisreichen Aufenthalt in Wels geht es weiter nach Uruguay. Nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Schiff will Kutzenberger den Atlantik überqueren. Eine folgenreiche Entscheidung.
Das Erzählen einer fiktionalisierten Biografie ist eine spaßige Angelegenheit. Es erlaubt dem Autor voll aus dem zu schöpfen, was er kennt, und gleichzeitig darf er sich jeden Schabernack erlauben. Dabei reicht die bloße Behauptung von Authentizität oft. In Kutzenbergers erstem Roman Friedinger war die Handlung noch recht plausibel. In Jokerman machte sich Kutzenberger dann einen Spaß daraus, sein fiktives Selbst auf eine wahnsinnige Reise von Island bis ins Weiße Haus zu schicken. Die Glaubwürdigkeit, die in Friedinger aufgebaut wurde, trug die Lesenden durch diese hanebüchene Erzählung. Aber eines war klar – glauben durfte man dem Ganzen nicht. Trotzdem sah man Kutzenberger, den Autor, in diesem Roman gespiegelt, ließ ihn von sich selbst sprechen und folgte bereitwillig.
Jetzt scheint das Ich den Autor aber zu sehr eingeengt zu haben, denn kurzerhand bringt er sich um, ermordet literarisch sein Alter Ego und entzieht ihm gleich auch noch die Stimme. Kilometer Null wird nicht mehr in der ersten Person erzählt, stattdessen nimmt sich eine (erst) körperlose Erzählstimme der Sache an. Trotzdem lässt sich das Buch wohl noch dem alten Genre zurechnen, obwohl man darüber diskutieren könnte. Für die Zukunft hat Kutzenberger seine Literatur von sich selbst befreit. Ich bin gespannt, was das mit sich bringt.
Kilometer Null ist zweifelsohne Kutzenbergers bisher bestes Buch. Von den kleinen erzählerischen Schwächen und auch allen literarischen Restriktionen befreit, fließt das Buch auf unverkennbare Kutzenberger-Manier nur so voran. Gut tut dem Roman vor allem die Loslösung aus der engen Ego-Perspektive und die damit einhergehende freie Erzählstruktur. Die Stimme des Autors Kutzenberger steckt voller Selbstvertrauen – jetzt, da sie nicht mehr mit der Stimme der Figur verkettet ist.
Das Buch springt vom Haupthandlungsstrang immer wieder nach vorn, schweift ab und tut dies auf eine so organische Art und Weise, dass es einem egal ist, wo man sich gerade befindet. Man will einfach noch wissen, was auf der nächsten Seite steht. Die kürzeren Kapitel helfen auch dabei, nicht von der Komplexität der Stränge und der vielen Verweise überwältigt zu werden. Auch die Loslösung von der Realität, der Verbindung zu realen historischen Ereignissen tut Kilometer Null sehr gut und erlaubt noch mehr Kreativität für die dennoch realen Interaktionen der Figuren.
Sprachlich steigert sich Kutzenberger von Roman zu Roman. Hätte ich in Friedinger noch den ein oder anderen Satz umformuliert und so manchen Dialog gestrafft, so halte ich in Kilometer Null immer wieder inne, um einen Satz nochmal zu lesen. Es liest sich einfach flüssig und trotzdem fehlt es dem Stil nicht an kunstvollen Wendungen. Niemals hat man das Gefühl, ein Sprachspiel sei selbstzweckhaft. Alles steht an seinem Platz und ist, ohne einfach zu wirken, einem breiten Publikum zugänglich. So soll es im Sinn des Autors sein – den künstlerischen Anspruch nicht dem Erfolg opfern zu müssen.
Ein faszinierender erzählerischer Kniff, der sowohl für bessere Orientierung als auch für interessante narrative Situationen sorgt, ist, dass bei jedem Kapitel vermerkt ist, wie weit sich die Handlung von Kutzenbergers Todesort abspielt. Dieser Ort ist Kilometer 0. So steht zum Beispiel während der Wochen in Wels immer km 11.170 neben dem Kapitelanfang. Die Geschichte läuft dem Anfang und dem Ende entgegen, springt zwischen den Distanzen herum, bleibt aber mit dieser unausweichlichen Annäherung stetig spannend. Es ist wie der Countdown am Ende eines Actionfilms, über einen ganzen Roman gezogen. Das Ende ist unausweichlich und trotzdem wollen wir wissen, wie Kutzenberger dorthin gekommen ist.
Kilometer Null ist ein großartiger Roman voller Witz, tiefer Emotionen, intelligenter Überlegungen und spannender Wendungen. Auch ohne alle Anspielungen zu verstehen (obwohl das natürlich nochmal einen gewaltigen Mehrwert mit sich bringt) kann man nicht anders, als dieses Buch von Seite zu Seite zu genießen. Ein Muss für jeden Freund der Österreichischen Literatur und der Literatur überhaupt und ein toller Schlusspunkt für Kutzenbergers autofiktionale Trilogie.
Kilometer Null (Berlin Verlag) von Stefan Kutzenberger ist seit 31. März überall im Handel erhältlich.
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.