Salih Jamal ist ein Meister der großen Gefühle. Spätestens seit seinem letztjährigen Hit Das perfekte Grau ist das klar. Da freut es besondern, dass man nicht lange auf neues Material warten musste, dann nach nur einem Jahr Pause entführt uns nun Blinder Spiegel in eine Welt voll Leidenschaft und Schmerz.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
18. März 2022: Lui ist ein rastloser Geist. Als Fluglotse hält es ihn nie lange an einem Ort. Flughäfen gibt es schließlich viele. Seit einiger Zeit ist er aber nun schon in Paris. Diese Stadt hat es ihm angetan. Als er eines Tages auf Elle trifft ist es um ihn geschehen. Aber Liebe auf den ersten Blick funktioniert nicht immer wie im Film. Das Leben hält so einige Komplikationen bereit.
Nur Minuten nachdem Lui Elle zum ersten Mal sieht und ihr verzaubert folgt werden die beiden indirekt Zeugen eines Unglücks. Ein Kind stürzt vor eine U-Bahn. Ein schlechtes Omen, das die beiden ignorieren. Stattdessen nehmen sie es zum Anlass im Angesicht ihrer Sterblichkeit sofort miteinander zu schlafen. Vernunft ist kein Bestandteil der Leidenschaft und Lui ist ein leidenschaftlicher Mensch, ein Träumer. Die Situation offenbart sich schnell als viel schwieriger als geglaubt.
Salih Jamals weiß, wie man das Abstrakte, das Ungreifbare in Worte fasst, die zwar keine Klarheit dafür, aber Verständnis erzeugen. Vor allem wenn dieses Abstrakte das Gefühl der Liebe und Leidnschaft betrifft. In der Welt von Salih Jamals Charakteren dreht sich alles ums Gefühl, alles um den Wunsch das Leben auf emotionaler Ebene zu erkunden. Sie sind die großen Liebenden aus alter literarischer Tradition. Wie aus der Zeit gefallen wirken die Überlegungen und inneren Monologe Luis und seine rotierende Selbsterforschung. Kein Funken Zynismus findet sich in ihm, dafür aber jede Menge Melancholie. Die Liebe und ihre Kehrseite stehen sich in Blinder Spiegel ebenbürtig gegenüber. Das Buch riskiert dabei zwar immer wieder in den Kitsch abzugleiten, aber wegen der Konsequenz des Erzähltons und der Ehrlichkeit, die in all dem liegt, vermeidet es die Abgründe der Melodramatik.
Sprache und Handlung gehen in Blinder Spiegel Hand in Hand. Große Worte für einen nicht sehr komplexen Plot. Es ist nämlich nicht das Äußere, das hier nach Tiefe verlangt, sondern das chaotische Innenleben, das unter dem recht simplen Geschehnissen liegt. Da wird jede kleine Geste und jeder Blick zum bedeutungsvollen Akt. Darauf muss man sich erstmal einlassen, dann aber zieht es einen in seinen Sog und bringt noch das kälteste Herz zum Schmerzen.
Das Buch ist kein trivialer Liebesroman. Viel eher: eine romantische Tragödie oder eine tragische Romanze, die den Geist von Paris in mythologischer Verklärtheit beschreibt und beschwört. Außerdem geht der Roman auch mit der Körperlichkeit der Liebe nicht zimperlich um. Ohne falschen Scham spart Jamal nicht an Details. Die Leidenschaft der Charaktere ist echt und stürmisch. Wenig wird umschrieben. Stattdessen findet Jamal direkte Worte, ohne obszön zu sein. Trotzdem sind so manche Szenen nicht für sanfte Gemüter. Die Leidenschaft hat auch ihre dunklere Seite.
Blinder Spiegel von Salih Jamal ist eine knackig auf den Punkt gebrachte Liebestragödie, die das Wesentliche, die wahren Gefühle einer stürmischen Beziehung, schildert. Poetisch und unprätentiös rauscht man durch diese archetypische Liebesgeschichte.
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Alle Fotos: (c) Septime Verlag, heldenderfreizeit.com
Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.