Neues Jahr, neues Buch. Naja, nicht vollkommen neu. Bevor die Bücher der Frühlingsprogramme ins Haus segeln, nutzen wir die Zeit, um euch noch ein absolutes Highlight von 2021 vorzustellen: Natascha Wodins autofiktionaler Roman Nastjas Tränen.
Eine Kritik von Peter Marius Huemer. Der freie Schriftsteller stellt euch in “Peters Buchtipp” jeden Monat ein außergewöhnliches Werk vor.
23. Jänner 2022: Die 1945 als Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter geborene Natascha Wodin ist mittlerweile eine feste Größe in der deutschsprachigen Literatur. Ihre Werke sind oft autofiktional – soll heißen, dass die Autorin selbst als Figur darin vorkommt, die Handlung aber nicht unbedingt wirklich biografisch ist. Sie soll nur so erscheinen und vermengt Wahrheit und Fiktion. So auch in ihrem neuesten Roman Nastjas Tränen, der die Geschichte einer Ukrainerin erzählt, die in Deutschland als Putzfrau arbeitet.
Natascha Wodin gibt eine Annonce auf. Sie sucht nach einer Putzfrau. Sofort melden sich viele, oft recht verzweifelte, Osteuropäerinnen. Natascha wählt aus dem Bauch heraus eine aus: Nastja. Nach drei Monaten legt Natascha eines Tages eine Schallplatte mit ukrainischen Volksliedern auf, um Nastja eine Freude zu machen. Statt sich zu freuen, beginnt Nastja zu weinen. Von da an wechselt der Roman die Perspektive und Nastjas Lebensgeschichte wird erzählt. Es ist eine tragische, aufregende und bewegende Geschichte voller Wendungen des Schicksals.
Was Natascha Wodins Roman auszeichnet, ist seine Konstruktion. Ohne unplausibel zu werden, beginnt sich die Handlung rasch immer wieder in sich selbst zu spiegeln. Da wird anfangs ein Eintrag im Pass von Jude auf Ukrainer geändert, um den sowjetischen Antisemiten zu entkommen und deshalb die Einreise nach Deutschland schwieriger. Dann später wird erneut ein Pass gefälscht, um der deutschen Einwanderungsbehörde zu entkommen, und schließlich ein legaler deutscher Pass erworben, der einem aber den Pass der Heimat entreißt. Auch andere Ereignisse spiegeln sich und bedingen einander, formen eine tragische Spirale. Das Leben und die Suche nach irgendeiner Form von Glück wird zur Sisyphusaufgabe. Nastja wird von Gesetzen, Schicksalsschlägen, dem Willen ihrer Mitmenschen und historischen Ereignissen getrieben.
Den Rahmen um alles bildet Nataschas Beziehung zu Nadja. Dabei geht die Autorin nicht mit allem so feinfühlig um, wie mit ihrer Protagonistin und ihrem autofiktionalem Ich. Obwohl der Roman in seiner innerfiktionalen Realität sehr objektiv erzählt ist, sind einzelne Aspekte und Figuren recht extrem charakterisiert. In der Welt des Romans sind sie wirklich so, weil sie eine spezielle Funktion in der Geschichte ausüben.
Besonders ein Charakter, ein deutscher Mann, kommt derart schlecht weg, dass man meinen könnte, er sei die Parodie eines verachtungswürdigen Antagonisten. Aber das macht nichts. Er erfüllt seine Rolle in der Erzählung – es ist schließlich nicht seine Geschichte. Und diese Funktion spielt eine wichtige Rolle. Das gilt für einige Nebencharaktere. Nastja wird vom Leben gebeutelt und ihr wird Übel mitgespielt. Aber in ihrem Roman, dem Roman, der ihren Namen trägt, ist sie das Zentrum und die anderen Figuren definieren sich anhand ihres Verhälnisses zu Nastja und in zweiter Linie zu Natascha.
Sprachlich vermag es der Roman Emotionen und tiefe Eindrücke zu hinterlassen, ohne zu ausschweifend zu sein. Das wäre auch dem Thema und den Ereignissen nicht unbedingt angemessen. Wodin geht mit ihren Worten ökonomisch um und weiß sie effizient und effektiv einzusetzen.
Stören könnte man sich ein wenig an dem etwas kitschigen Titel. Nastjas Tränen – dieser Titel löst nicht unbedingt die Verlockung aus, das Buch aus dem Regal zu nehmen. Er klingt eher nach einem billigen Liebesroman von der Tankstelle. Aber deswegen sollte man das Werk nicht unterschätzen und sich auch nicht abschrecken lassen. Hinter dem Titel verbirgt sich ein interessantes und emotionales Buch.
Nastjas Tränen ist ein Roman, der von seiner hervorragenden Konstruktion, dem Gefühl der Autorin für thematische und narrative Verbindungen verschiedener Ereignisse und effizienter Sprache lebt. Obwohl das Buch größtenteils von Nastja und nicht von der fiktionalisierten Autorin handelt, ist es eine äußerst persönliche Geschichte. Nastjas Tränen können auch bei den lesenden Tränen auslösen.
Nastja Tränen (Rowohlt) von Natascha Wodin ist um etwa 22 Euro
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Peter Huemer stellt bei den Helden der Freizeit jedes Monat in "Peters Buchtipp" ein außergewöhnliches Werk vor. Außerdem schreibt er bei uns über Games, Kino und Streaming. Der Freie Schriftsteller hat vergleichende Literaturwissenschaft studiert und arbeitet auch als Lektor, Korrektor und Übersetzer.